Die Diaspora kommt heim
Im albanischen Radio hörte ich den Namen Dua Lipa heraus. „Sie wird hier ein Konzert geben“, übersetzte mir der Taxifahrer auf Englisch, während wir über die Autostrada von Tirana nach Prizren fuhren. Zwischen den sich in der Nacht immer weiter verhüllenden grünen Hängen und Bergen Albaniens und Kosovos zeigten sich nur sporadisch Häuser. Die Tankstellen und Obststände am Straßenrand waren von grellen Scheinwerfen geflutet, so als befänden sie sich auf einer Bühne. An einer Tankstelle standen in Hollywood-Typografie große Buchstaben: NEWBORN. Jedes Land hat wohl seine eigene Art, Nachwuchs zu verkünden, dachte ich, bis mich der Taxifahrer auf das X-te Schweizer Autoschild aufmerksam machte. „Das ist die Diaspora“, sagte er freudig. „Alle kommen jetzt nach Hause.“
Die Autostrada Biennale beginnt im Juli immer eine Woche bevor die Diaspora für etwa drei Wochen nach Prizren kommt. In dieser Zeit ist die Stadt dreimal so voll wie über den Rest des Jahres. Familientreffen und Hochzeiten finden statt, erzählte mir Leutrim Fishekqiu, einer der drei Gründer*innen der Biennale. Das erklärt die unzähligen Brautkleidergeschäfte in dieser kleinen Stadt. Die Luft riecht nach Barbeque, die Restaurants sind rappelvoll und bis spät in die Nacht sind Familien und junge Leute unterwegs. Ganz selbstverständlich in dieses Treiben sind das sich zum vierzehnten Mal stattfindende DokuFest und die Autostrada Biennale verflochten. Unaufdringlich, aber als Angebot. So übernimmt die Biennale die Restaurierung historischer Gebäude und macht sie erstmals im Rahmen der Ausstellung der Öffentlichkeit zugänglich. Diesmal gehören zwei historisch wichtige Familienhäuser sowie das Gazi Mehmet Pasha Hammam dazu.

Ein Teppich aus Jerusalemer Kräutern im Haus der Dorambari Familie. © Laurent Mareschal, Beiti (2010). Foto: Tughan Anit.
Neben den über das Stadtzentrum verteilten Ausstellungsorten stellen die Hangars die größte Ausstellungsfläche dar. Einst militärisches Trainingszentrum der osmanischen Armee und später der Deutschen Bundeswehr, befinden sich dort nun Firmen und seit 2021 der Kern der Autostrada Biennale, die vor 11 Jahren als nomadisches Experiment begann. Die drei Gründer*innen Vatra Abrashi, Leutrim Fishekqiu und Barış Karamuço sind selbst in Prizren geboren und aufgewachsen und leiten die Institution seither. Ein Gegenpol zur Hauptstadt Prishtina, wo sich die künstlerische Szene eher sammelt.
Die Biennale kooperiert ständig mit anderen Institutionen, vermittelt Kontakte zu Wissenschaftler*innen, stellt eigene Räume und Ressourcen zur Verfügung. Ich war eingeladen von der nomadischen KONTAKT Sammlung, die sich besonders für osteuropäische Kunst in- und außerhalb Osteuropas einsetzt. In Kooperation mit DokuFest und der Autostrada Biennale zeigten sie Künstler*innenfilme der Sammlung (darunter Größen wie Sanja Iveković, Anna Jermolaeva und Milica Tomić), sowie eigens produzierte Künstler*innenporträts im Rahmen des öffentlichen Biennale Programms. DokuFest-Artistic-Director Veton Nurkollari wählte Porträts von Personen, die auch selbst Filme mach(t)en, wie die Künstlerin Ashley Hans Scheirl und der Filmkritiker Alexander Horwath. Die Künstler*innenfilme habe ich leider verpasst, dafür einige andere Screenings des DokuFests mitgenommen.
Raus in die Welt, die Welt rein lassen
So sehr mich das Engagement dieser Institution in der Stadt auch begeistert, so sehr hadere ich mit der Ausstellung. Ich will am liebsten schreiben, dass es toll war, dass ich spannende neue Positionen entdeckt habe und mich von der künstlerischen Qualität überzeugt habe. Leider war das eindrucksvollste der Biennale ihre Locations.

Archäologische Installation von Dorutina Kastrati im ehemaligen Hammam. Foto: Tughan Anit.
Die Autostrada Biennale zieht durchaus bekannte Namen an Land: Bei vergangen Editionen waren Künstler*innen wie Agnes Denes, Nil Yalter, IRWIN und Petrit Halilaj & Alvaro Urbano dabei. Die in frühen Editionen vertretenen Jakup Ferri und Iva Lulashi haben 2022 und 2024 auf der Venedig Biennale Nationalpavillons bespielt. Dorutina Kastrati, die letztes Jahr den Kosovo auf der Venedig Biennale vertrat, bekam dafür eine Special Mention verliehen – sie war auch bei der ersten Edition der Autostrada Biennale vor 11 Jahren dabei. Hier in Prizren schuf sie diesmal eine Arbeit für das Frauenabteil des kürzlich restaurierten Hammams: Sie arrangierte dafür Scherben und Überreste der bei den Bauarbeiten gefundenen Gegenstände aus der Betriebszeit des Hammams. Mehr als ansprechende archäologische Präsentation sah ich darin jedoch nicht. Weiter hinten ist eine Textilarbeit von Stephanie Rizaj, Blinded Tongues (2025), installiert. Auf einem Holzgerüst hängen vergrößerte Kleidergrößen-Labels und Teppiche. Letztere sind im Muster von Schallwellenbalken gewoben. Ich höre, wie ein Guide erklärt, dass sie den Stimmlosen so eine Stimme geben will. Naja, etwas mau das Ergebnis. Rivane Neugeschwander adaptierte mit Eu desejo o seu desejo (I wish your wish) (2003) eine kirchliche Praxis aus Brasilien als Kunstwerk: Bunte Bändchen mit aufgedruckten Wünschen baumeln an der Wand. Man nimmt sich eins, bindet es ans Handgelenk und lässt im Gegenzug einen eigenen Wunsch auf Papier da. Wenn sich das Bändchen natürlich löst und auf den Boden fällt, gehe der Wunsch in Erfüllung. Zum Glück fiel meins im Laufe des Tages. Süß, aber Yoko Ono hat sowas schon vor Jahrzehnten mit ihren Wish Trees (1996–heute) gemacht.

© Armend Nimani, Circumcision (2025). Foto: Tughan Anit.
Positiv aufgefallen ist mir Armend Nimani mit seinen dokumentarischen Fotografien zur Kultur und Geschichte Kosovos und Albaniens. Ein Bild seiner Circumcision (2025) Serie hält zwei Männer beim balkanischen Pelivan Wrestling fest. Das Öl tropft von ihren verschlungenen, geradezu tänzerisch schwebenden Körpern. Im Haus der Dorambari Familie verlegte Laurent Mareschal mit Beiti (2010) einen Teppich aus Jerusalemer Kräutern im Muster arabischer Fliesen. Ein Luftstoß und die Linien würden verschwinden. Ebenfalls dort präsentiert Small But Dangers mit Tears (2015) drei Stofftaschentücher, wie Männer sie traditionell in der Sakkotasche tragen. Aufgespannt erinnern sie mich an Josef Albers Quadrate, ein wenig auch an Rosemarie Trockel. Viel wichtiger jedoch sind die sichtbaren Nutzungsspuren, die Tränen und Flecken. Ob die Besitzer sie nicht auch selbst genutzt hatten? Im wörtlichen Sinne eine Auseinandersetzung mit angespannten Männlichkeitsvorstellungen. Draußen zwischen den Hangars steht Nathan Coleys Lichtschriftzug I Don’t Have Another Land (2022). Den Satz hatte er als Graffiti in Jerusalem gesehen. Eine Wahrheit, die sowohl auf die israelische als auch auf die palästinensische Bevölkerung zutrifft. Eine, die auch an die geflüchteten Kosovar*innen während des Kriegs erinnert.

© Small But Dangers, Tears (2015). Foto: Tughan Anit.
Die Hangars der Biennale produzieren so viel wie möglich in der hauseigenen Werkstatt. Über die Hälfte der Ausstellungsmöbel vergangener Editionen wird wiederverwendet. Seit September 2024 gibt es ein Open Air Theater sowie ein Residency-Programm für teilnehmende Künstler*innen. Einen Teil der gerade ausgestellten Gemälde hat der Künstler Brilant Milazimi so unmittelbar vor Ort produziert. „Es ist teuer, Arbeiten über die Grenzen zu bekommen, gerade weil wir nicht Teil der EU sind“, erklärte mir Barış. „Und wir schicken immer wieder Leute nach Europa, um unsere Kooperationen zu stärken.“ – „Nach Europa?“, fragte ich etwas verblüfft. „Naja, wir waren lange von Europa abgeschnitten. Kosovar*innen durften bis vor knapp zwei Jahren nur nach Albanien, Nordmazedonien und in die Türkei reisen. Es ist noch ungewohnt, sich als Teil von Europa zu verstehen.“ Die Menschen im Kosovo können endlich raus und die Welt sehen, die diesjährige Edition solle der Welt Kosovo zeigen.
Kurz vor meiner Abreise schaute ich bei einem Souvenirshop vorbei. Dort sah ich Magneten und Anhänger, erneut mit jenem Wort: NEWBORN. Ich fragte die junge Verkäuferin, ob Baby Announcements dieser Art hier so ‘n Ding seien. Sie schüttelte lächelnd den Kopf: „Der Slogan steht für unser junges Land, die politische Geburt Kosovos.“ Es bleibt für mich kaum greifbar, dass die Autostrada Biennale fast so jung wie dieses Land ist. Ich nickte und bedankte mich. Dann ging es für mich zurück nach Tirana über die lange Autostrada.

© Nathan Coley, I don’t have another land (2022). Foto: Tughan Anit.