Das Bild zeigt ein Portrait der Künstlerin Jeewi Lee in ihrem Atelier.

Archivarin des Alltäglichen: Jeewi Lee im Porträt

Die Berliner Künstlerin Jeewi Lee beschäftigt sich in ihrem Werk mit Spuren und dem, was (übrig) bleibt. In ihrer aktuellen Ausstellung Field of Fragments in der Berliner Galerie Sexauer untersucht sie Sand. Alicja Schindler hat sie für uns in ihrem Atelier besucht, um Lees eigene Spuren zu entziffern. Lesezeit: 8 Minuten

Manchmal lohnt es sich, für einen Atelierbesuch zu früh dran zu sein. Ein Mitarbeiter serviert Kaffee, und während man auf die Künstlerin wartet, lassen sich in aller Ruhe ihre Spuren inspizieren. Im Fall von Jeewi Lee passt das besonders gut, denn Spuren sind ein Hauptthema ihrer künstlerischen Praxis.

Auf einem großen Arbeitstisch inmitten der riesigen Fabriketage in Berlin-Kreuzberg häufen sich Döschen und Bücher neben Schüsseln mit Sand, dahinter ein Schreibtisch, ein Sofa und eine Vintage-Musikanlage. An einer Wand steht ein kleiner Tisch, auf dem elf weiße, handgroße Modelle in abstrakten Formen thronen, und während ich noch überlege, ob ich sie heimlich anfassen soll oder nicht, quietscht die schwere Eingangstür und Jeewi Lee betritt ihr Studio. 

Es ist nicht im Geringsten schwer, mit Lee ins Gespräch zu kommen. Im schwarzen Wollmantel wirbelt sie durch den ausgekühlten Raum, dreht eine Heizung nach der anderen auf, während sie erzählt, dass sie gestern erst nach Mitternacht wieder in Berlin angekommen ist. Sie war auf der Messe in Köln, dann bei Finissagen in Antwerpen und Recklinghausen, gerade hatte sie einen Zoom-Call und gleich macht sie noch einen Licht-Check in der Galerie Sexauer. Dort eröffnet am 22. November – zum Zeitpunkt unseres Treffens sind es bis dahin noch zwei Wochen – ihre Einzelausstellung Field of Fragments.

 

Das Bild zeigt eine Ausstellungsansicht von "Field of Fragments" in der Berliner Galerie Sexauer von Jeewi Lee.

Field of Fragments von Jeewi Lee, Ausstellungsansicht Galerie Sexauer (2024), Courtesy Galerie Sexauer, Foto: Macus Schneider

 

Seit Beginn ihres Studiums an der Universität der Künste 2008 lebt Lee in Berlin. Ihre Installationen und konzeptuellen Bild- und Videoserien entstehen meist ausgehend von der Geschichte eines Ortes. Genauer von den Spuren, die die Künstlerin dort ausmacht, und in denen sich „Vergangenheit und Gegenwart kreuzen“, wie sie sagt. Die Arbeiten der 37-Jährigen wurden bereits in großen Institutionen gezeigt, wie in der Bundeskunsthalle und im Gropius Bau. Auch wichtige Preise kann Lee verbuchen: 2018, gerade fertig mit dem Masterstudium, wurde sie mit dem Villa Romana-Preis ausgezeichnet, 2021 erhielt sie den Kunstpreis junger westen und nächstes Jahr wird sie Fellow in der Villa Aurora in Los Angeles. 

Ihre Installationen sind aufwendig, oft mit Recherchen und Reisen verbunden: So entfernte sie für die Serie Vor•wurf (2021) die Tapeten im Haus ihres verstorbenen Großvaters in Südkorea, brachte sie nach Deutschland und baute daraus eine raumfüllende Installation. Für die Arbeit Ashes to Ashes (2019–2021), die bereits im Kunstverein Hamburg, in der Städtischen Galerie Ostfildern und im Hamburger Bahnhof zu sehen war, produzierte Lee Seifenskulpturen aus Ölen und Aschepartikeln von Bäumen, die kurz zuvor bei einem Waldbrand in Norditalien zerstört worden waren. In jede einzelne Seife druckte Lee dann ein Stück verbrannter Rinde – eine Spur der ausgelöschten Vergangenheit im neu Hergestellten.

Für unser Gespräch setzen wir uns an den Schreibtisch. Den Mantel lässt Lee die ganze Zeit an und etwas zu trinken holt sie sich auch nicht, so dass ich – im Pulli und mit Kaffeetasse – von außen betrachtet wohl schon mehr zuhause wirke als Lee selbst in ihrem Atelier. 1987 in Seoul geboren, zog sie im Alter von fünf Jahren nach Berlin, weil sich ihre Eltern – der Vater Bildhauer und die Mutter Malerin – für ein Aufbaustudium an der Universität der Künste eingeschrieben hatten. Nach fünf Jahren kehrten sie nach Südkorea zurück, aber auch dort wechselte die Familie alle paar Jahre den Wohnort. Als Künstler waren Lees Eltern ungebunden. Das häufige Umziehen sei prägend gewesen, reflektiert Lee. Einerseits, weil sie nie recht gewusst habe, wohin sie gehöre, andererseits habe das ständige Assimilieren im Nachhinein auch etwas Gutes gehabt, denn: „Man könnte mich jetzt überall hinwerfen und ich würde surviven.“ 

 

Das Bild zeigt ein Portrait der Künstlerin Jeewi Lee in ihrem Atelier.

Portrait der Künstlerin Jeewi Lee, Foto: Acatarina Rusu

 

Sie erzählt, dass ihre Eltern aus ärmeren Verhältnissen stammen und hart strampeln mussten, um ihren Lebensstandard zu erreichen, seien sie anfangs gegen den Wunsch ihrer Tochter gewesen, auch Künstlerin zu werden. Lee erinnert sich, dass sie nachts, wenn ihre Eltern schon schliefen, fotorealistisch zeichnen übte, um sich mit einem Portfolio an der Art High School in Seoul zu bewerben. Sie wurde angenommen, und nach zwei Jahren, mit 17, entschied sie sich, allein aufs Internat zu gehen, und zwar in den Schwarzwald. Nach dem Internat verbrachte sie ein Jahr in Belfast, bevor sie an der Berliner UdK beim Maler Robert Lucander zu studieren begann. Berlin ist bislang ihre längste Station. 

Lee hat zwar in der Malerei-Klasse studiert, klassisch gemalt hat sie aber nie. Während des Studiums sammelte sie Camouflage-Stoffe, mit denen sie konzeptuell arbeitete: „Ich habe eine richtige Obsession für diese Stoffe entwickelt.“ Bei einem Road-Trip schenkte ihr ein ehemaliger Soldat seine Uniform aus dem Irak-Krieg, mal fand sie Stoffreste im Billigladen oder bestellte neue auf Amazon. Die Formen, die Lee auf diese Stoffe malte, ergaben sich aus den bereits vorhandenen Mustern. „Ich habe immer in Frage gestellt, dass man von einer Malerin erwartet, einen eigenen Stil zu haben.“ Stattdessen habe sie es interessanter gefunden, wenn der Malstil und die Palette sich dem Material anpassen und „camouflagen“, wie sie es nennt. Auch die Formate beließ Lee meist in der Größe, wie sie sie gefunden hatte. „Dann war ich ein Jahr in New York am Hunter College und das hat meinen Blickwinkel geändert – hin zu dem, was ich heute mache“, sagt Lee. 

Während es bei den Camouflage-Arbeiten darum ging, zu untersuchen, wie ein Individuum von seiner Umgebung geformt und beeinflusst wird, verlagerte sich der Fokus nach dem Aufenthalt in New York auf eine andere Frage: Was hinterlässt das Individuum der Umgebung? Was bleibt übrig von etwas, das eigentlich schon weg ist? Und welche Geschichten erzählen diese Spuren? Lee zeigt auf den Abdruck, den meine Espressotasse auf dem weißen Flyer auf dem Schreibtisch hinterlassen hat: „Der Moment, wenn deine Kaffeetasse den Tisch berührt hat, zum Beispiel. Je nach Position, kann man ablesen, wie du gesessen hast, ob du Rechtshänderin bist, und vielleicht sogar wie alt die Spur ist.“ Die Erfahrung, als Kind und Jugendliche immer wieder von neuem an fremden Orten anfangen zu müssen, begleite sie bis heute – „und wahrscheinlich bin ich deshalb so obsessed mit dem Thema Spuren“, fasst Lee zusammen. Auch wenn es schlüssig klingen mag, die Gründe für die künstlerischen Interessen in der eigenen Lebensgeschichte zu suchen, sind Lees Werke gerade deshalb spannend, weil sie eben nicht in biografischen Bezügen verharren, sondern weil sie sich kaum beachteten Naturphänomenen und den vergessenen Geschichten von Menschen, Orten oder Gebäuden annehmen und deren Hinterlassenschaften, Erinnerungen oder Traumata wahrnehmbar machen.

 

Das Bild zeigt eine Ausstellungsansicht von "Field of Fragments" in der Berliner Galerie Sexauer von Jeewi Lee.

Field of Fragments von Jeewi Lee, Ausstellungsansicht Galerie Sexauer (2024), Courtesy Galerie Sexauer, Foto: Macus Schneider

 

So auch die Installation, die nun in der Galerie Sexauer zu sehen ist. „Angefangen hat alles bei einer Residency in Portugal“: Bei einem Strandspaziergang habe sie begonnen, sich Gedanken über Sandkörner zu machen. „Wie ein Sandkorn so von Küste zu Küste gespült wird, fand ich plötzlich sehr spannend.“ Wie kleine, nomadische Greise verbringen Sandkörner mal ein paar hundert Jahre hier und ein paar hundert dort, nachdem sie vom Meerwasser an einen anderen Ort getragen wurden. Getrieben von ihrem geweckten Interesse, habe sie angefangen, die politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Aspekte zum Thema Sand zu recherchieren. „Sand ist ein so banales, oft nicht wertgeschätztes Material. Jedes Sandkorn, das dir nach einem Strandtag zwischen den Zehen klebt, nervt”, lacht sie, „aber eigentlich ist es nach Wasser die Ressource, von der wir am meisten abhängig sind“. Weltweit werden jährlich fünfzig Milliarden Tonnen Sand abgebaut. Beton, Zement und Glas werden mit Sand hergestellt. Ohne das Material gäbe es keine digitale Welt, keine Photovoltaik und auch keine künstliche Intelligenz, denn Sand steckt in jeder Chipkarte.

Aus dem Wissensfundus ihrer monatelangen Recherchearbeit mit Büchern, Podcasts und Dokumentationen berichtet Lee, dass das Geschäft mit Sand deshalb auch oft kriminell ablaufe. „In der Literatur und im Film steht Sand oft für Unendlichkeit – man sagt ja auch ‚wie Sand am Meer‘. Tatsächlich ist er aber sehr endlich.“ Und die Krux bei der Sache ist, wie bei so vielen anderen Ressourcen auch, dass wir zwar jeden Tag mehr Sand brauchen, dieser aber auf natürliche Weise gar nicht so schnell entsteht. Lee steht auf und führt mich zu dem kleinen Tisch mit den Modellen. „So ein Sandkorn ist kleiner als 1 Millimeter. Zusammen mit Phillip C. Reiner, mit dem ich für das Projekt kollaboriert habe, habe ich ewig nach einem Mikroskop gesucht, mit dem wir uns die Struktur von Sand genauer ansehen können.“ 

 

Field of Fragments von Jeewi Lee, Ausstellungsansicht Galerie Sexauer (2024), Courtesy Galerie Sexauer, Fotos: Macus Schneider

 

Fündig geworden ist sie dann mit dem Wissen von Profis des Industrieunternehmens Zeiss, das auf die Herstellung von Mikroskopen spezialisiert ist. Zusammen mit Reiner, der als Grundlagenforscher für Geometrie auch im Studio von Ólafur Elíasson gearbeitet hat, und gemeinsam mit den Profis von Zeiss, „röntgte“ sie die Sandkörner unter dem Mikroskop, erstellte hochaufgelöste Scans und produzierte aus diesen die Modelle, die jetzt vor uns liegen. Sie nimmt ein Modell in die Hand, dessen phallische Form an einen Pilz erinnert. „Das Sandkorn kommt aus Mallorca.” Beim Anblick des stabförmigen Teils kann ich nicht recht glauben, dass es sich dabei um ein – für mein Auge – rundes Sandkorn handelt. Sie zeigt auf eine korallenartige, organische Form: „Die auch.“ Das Sandkorn, das Vorlage für ein Modell mit eckigen, glatt geschliffenen Kanten war, hat Lee aus New York mitgebracht. Daneben gibt es noch eines aus Korea, das flach ist wie ein Pfannkuchen und eines aus dem Senegal, von dem Lee erzählt, dass sie beim Mikroskopieren darauf schwarze Partikel von Teer erkennen konnte, außerdem liegt da noch eines aus Connecticut, wo Lee kürzlich zwei Monate während einer Residency der Josef und Anni Albers Foundation verbracht hat. 

 

Das Bild zeigt eine Ausstellungsansicht von "Field of Fragments" in der Berliner Galerie Sexauer von Jeewi Lee.

Field of Fragments von Jeewi Lee, Ausstellungsansicht Galerie Sexauer (2024), Courtesy Galerie Sexauer, Foto: Macus Schneider

 

Die Modelle, die wir uns anschauen, sind Testläufer für die Skulpturen, die Lee von einer spezialisierten Firma mit 3D-Druckern für die Ausstellung hat produzieren lassen. Sie erzählt, dass die Skulpturen zum Zeitpunkt unseres Treffens schon in der Galerie stehen. Sie zieht ihr Smartphone aus der Manteltasche und zeigt mir Fotos. Die bestimmt anderthalb Meter hohen Sand-Skulpturen stehen majestätisch mit einigem Abstand zueinander im Ausstellungsraum. Das Phallus-Sandkorn sieht dort aus wie eine antike Säule, das Überbleibsel einer Ruine. Lee erklärt, dass die Skulpturen komplett aus Sand sind, eine wiege an die 200 Kilo. Auf einem weiteren Foto sind abstrakte Gemälde zu sehen, die auch in die Ausstellung kommen. Spuren des Spachtels, mit denen Lee den Sand auf die Leinwand aufgetragen hat, sieht man nur, wenn man stark heranzoomt. Farbpigmente hat sie für die Sand-Gemälde nicht verwendet, nur etwas Bindemittel, damit der Sand auf der Leinwand hält. Für ein Bild, dessen Ocker leuchtet, hat Lee Sand aus Portugal verwendet, für ein ziemlich graues Sand aus New York, ein großes mit braun-beigem Farbverlauf hat sie mit Sand aus dem Senegal gemalt. „Jede Küste hat eine andere Farbpalette.“ Von Weitem wirken die Farbverläufe so, als seien sie natürlich entstanden – vielleicht sogar über Jahre. Camouflagen kann Lee. Sie versteht es, mit ihrer für das Material feinfühligen Art ein ästhetisches Gleichgewicht herzustellen und aufrechtzuerhalten, zwischen dem, was schon da ist – und für das sie eine besondere Aufmerksamkeit hat – und dem, was sie selbst hinzugibt. Und vielleicht ist es genau das, was Lees Arbeit ausmacht. Statt etwas Neues zu schöpfen, erhält sie eine Geschichte aufrecht, am Leben. Sie überführt das Material, das eben oft, wie im Fall von Sand, Zeuge oder Archiv einer jahrhundertelangen Geschichte ist, durch die künstlerische Ausformulierung in die Gegenwart. Mal verlagert, justiert sie ein wenig, gibt so viel wie nötig hinzu, aber im Grunde handelt es sich bei ihren Arbeiten um eine sehr sensible Weise der Sichtbarmachung und des Schaffens eines Gleichgewichts zwischen der künstlerisch hergestellten Form und des natürlich entstandenen Ausgangsmaterials.

 

Field of Fragments von Jeewi Lee, Ausstellungsansicht Galerie Sexauer (2024), Courtesy Galerie Sexauer, Fotos: Macus Schneider

 

Nach dem Besuch in Lees Studio kann ich für den Rest des Tages nichts mehr anschauen, ohne zu vermuten, dass es diesen oder jenen Gegenstand ohne Sand nicht geben würde. Das Thema Sand ist hochpolitisch, trotzdem fällt es schwer, zu begreifen, wie abhängig wir von dem Material sind. Klar ist: Sand als Material, aber auch der Stoff der Leinwand – all das, mit dem Lee arbeitet und was sie zu Kunst macht – ist so viel beständiger als wir Menschen. Wir sind abhängig von Wasser, von Sand und zahlreichen anderen Rohstoffen. Am Ende läuft es dann halt doch darauf hinaus, was der Philosoph Michel Foucault prophezeit hat, und „der Mensch verschwindet wie am Meeresufer ein Gesicht im Sand“. Bis es so weit ist, macht es aber noch Spaß, sich Sandkörner als 3D-gedruckte ästhetische Phänomene anzuschauen.

Portrait der Künstlerin Jeewi Lee
Foto: Acatarina Rusu