Greta Kluge
Friedrich Kunaths Malerei ist vergleichbar mit dem Gefühl nach einer Sitzung beim Psychologen
Ich habe verlernt, meine Augen zu öffnen. Das fällt mir immer auf, wenn ich mich der Kunst aussetze.
Ich verschließe sie, wenn ich den Irrungen und Wirrungen des Alltags verfalle. Ich ertrinke in den aufgemotzten Wahrheiten unserer Zeiten, den Wellen von Input, die mich unkontrolliert übermannen. Gelogene Wahrheiten, wahre Lügen, Antworten auf nicht gestellte Fragen. Zu viele Fragen, die niemand jemals in der Lage sein wird, zu beantworten. Einzig integer erscheint dann die Kunst, die wahrhaftig vor mir steht oder hängt.
Man muss dem Werk vorsichtig gegenübertreten. Nicht einfach daran vorbeigehen und mit den Schultern zucken, vor allem, wenn man es erst nicht versteht, man ihm eigentlich keine Aufmerksamkeit schenken will. Meist entpuppt sich das schließlich als die Art Kunst, die mir einen ungefilterten Blick auf die Welt ermöglicht, die mich auf einen Weg führt, von dessen Existenz ich vorher nicht wusste. Man muss Kunst respektvoll begegnen. Schlägt man den falschen Ton an, bleibt die Mitteilung verborgen und die Chance, dass einem die Augen geöffnet werden, bleibt vertan. Vor kurzem hätte ich fast genau diesen Fehler gemacht.
Berlin, Goethestraße, Galerie Max Hetzler. On view: Friedrich Kunath – One Day I’ll Follow The Byrds (Tutto Pasta). Anfangs haben mich die Gemälde abgestoßen. Direkt beim Betreten des Raums wurde ich mit einer riesigen, vierteiligen Arbeit konfrontiert: When Was The First Time You Realized The Next Time Would Be The Last Time. Zugvögel, Seerobben, der kleine Maulwurf aus der gleichnamigen Kinderserie, Snoopy, ein heulender Wolf, Papageien, dazu ein Sonnenuntergang, ein Mond, Palmen… um es kurz zu fassen: alles, was man sich vorstellen kann. Oder auch: zu viel. Zu ambitioniert. Ich dachte, dass das meine Aufmerksamkeit nicht wert ist, dass der Maler versucht, so etwas wie der nächste Pieter Bruegel zu sein. Kunaths Werke ähneln denen des flämischen Malers insofern, als beide den Blick der Betrachter*innen mit kleinen, oft übertriebenen Darstellungen und abstrusen Details fordern, ihn auf ganz spezielle Art verspotten.

When Was The First Time, You Realized The Next Time, Would Be The Last Time von Friedrich Kunath (2023-24) Foto: Galerie Max Hetzler
Irgendwann überschritt ich, durch die Ausstellung wandernd, eine Grenze. Ich realisierte, dass es darum geht, offen zu sein. Offen und durchlässig für die Bilder und das, was sie mir vermitteln wollen. Zuerst war es einfach zu viel. Zu viel Farbe, zu viele Texturen, zu viel Kontextlosigkeit. Dachte ich. Als ich aufhörte zu denken: schwer beeindruckt. Kunaths Kunst greift von hinten an. Sie ist hinterlistig, sie zeigt mir ihre wahre Stimme nur, wenn ich mich tiefer mit ihr befasse. Sie erzählt mir Geschichten. Sie erobert mich.
Ist Kunath polemisch oder mitfühlend mit mir? Will er provozieren, dass ich mich naiv fühle? Seine Kunst kokettiert mit mir, ich bin unsicher, was sie im Sinn hat. Es kommt darauf an, was ich daraus mache. Denn: Es liegt ein immenser Wert in Kunst, mit der man auf den ersten Blick überhaupt nichts anfangen kann. Genau diese Kunst stellt Fragen. An At My Age I Need Serenity vorbeilaufend – das Bild zeigt ein Pony vor einer Küste, irgendwie involviert sind auch ein Eisberg und ein Regenbogen – frage ich mich, was „Serenity“ für mich bedeutet. Was ist die allgemeine Definition, was ist meine? Ist es ein Pony, Küste und Regenbogen-Romantik? Oder ist es Techno um drei Uhr morgens? Und macht Alter da wirklich einen Unterschied?
One Day I’ll Follow The Byrds (Tutto Pasta) von Friedrich Kunath, Ausstellungsansicht (2024) Foto: Galerie Max Hetzler
Die Bilder stellen Fragen und provozieren eine Auseinandersetzung mit mir selbst. Eines der für mich emotionalsten Bilder ist It’s An Inside Job. Es visualisiert alles, was in meinem Inneren los sein könnte. Es ist dunkel, es ist abscheulich und es ist schön. Es irritiert, es lässt mich schaudern in all seiner Kraft. Eine Figur, die eine Kopie ihrer selbst bügelt. Gruselig. Ein Mond, der Sonnenbrille und Hawaiihemd trägt, in einem Sessel sitzend, rauchend. Verwirrend. Und dann ist da noch ein Fenster, durch das man in die romantisch anmutende Außenwelt schauen kann. Aber was ist jetzt eigentlich innen, was ist außen? Muss ich meine Innenwelt kennen, um zu verstehen, wie ich funktioniere und wie andere funktionieren? Ist es das, was Friedrich Kunath mir sagen will? Und gibt es einen ironischen Unterton, weil gerade alles psychologisiert wird?
Als ich wieder in den sonnigen, warmen Septembertag heraustrete, sehe ich ein Schild am Ausgang des Innenhofes der Galerie. „Schritt fahren“ steht darauf. Ehrlicherweise ist es genau das, was noch machbar ist, nachdem ich Friedrich Kunaths Kunst begegnet bin. Innehalten. Der Effekt seiner Kunst ist vergleichbar mit dem Gefühl nach einer Sitzung beim Psychologen. Ich bin verbunden. Mit seinen Werken und dadurch irgendwie auch mit mir. Meine Augen sind weit geöffnet.

One Day I’ll Follow The Byrds (Tutto Pasta) von Friedrich Kunath, Ausstellungsansicht (2024) Foto: Galerie Max Hetzler
Hilka Dirks
Seine gemalten Biester leiden unter Liebe und Schmerz – und Scham, weil sie all diese Dinge fühlen
Ein alter Fabrikhinterhof, Treppen, Rampen, schwere Glasdoppeltüren. Die Räume von Max Hetzler in der Goethestraße sind serious business. Nicht nur ein Empfangstresen, sondern gleich mehrere, an ihnen schnell tippende Menschen, schale, knappe Blicke. Hier wird Kunst verkauft, das ist klar, aber nicht an dich, das ist auch klar. Angesichts der riesigen Formate, die der Maler Friedrich Kunath für die aktuelle Ausstellung One Day I’ll Follow The Byrds (Tutto Pasta) produziert hat, wüssten die meisten ohnehin nicht, wohin mit ihnen.
Betritt man den riesigen weißen Ausstellungsraum, eröffnet die Schau mit dem ach so poetisch betitelten Knaller When Was The First Time You Realized The Next Time Would Be The Last Time, einem sogenannten „Quadriptychon“, da das riesige Werk aus vier verschiedenen Leinwänden zusammengesetzt ist. Ob das in der Pressemitteilung erfundene Wort beabsichtigt oder ein bloßes Versehen war, bleibt ebenso unklar wie Teile der endlosen gemalten Referenzen, die von überdimensionierter europäischer Historienmalerei, deutscher Romantik über die Neue Leipziger Schule bis hin zu den Kritzeleien von Highschool-Toilettenwänden der 90er Jahre reichen. UdSSR-Zeichentrickfiguren und Millets Ährenleserinnen tummeln sich um eine magische Lagune, entsprungen aus dem lauwarmen Traum eines Zeugen Jehovas. Worte sind in die nasse Farbe gekratzt oder kriechen spinnenartig über die Bilder, geschrieben in schmalen schwarzen Pinselstrichen. „YOUR PROBLEMS“ fallen aus einem Airbus in den hyperbolischen Sonnenuntergang. Kunaths witziges Cut-up-Schlachtfeld wird in allen möglichen Techniken auf die Leinwand gebracht, von der Bleistiftzeichnung bis zur pastosen Ölwurst, so dick, dass sie fast auf den Boden zu rutschen droht. Friedrich Kunath kennt keine Regeln, keine Grenzen, keinen Respekt – oder er tut zumindest so, als ob.

One Day I’ll Follow The Byrds (Tutto Pasta) von Friedrich Kunath, Ausstellungsansicht (2024) Foto: Galerie Max Hetzler
„THIS IS MY SONG“ prangt versteckt, aber groß in den texturierten Wolken und ein heulender Wolf schreit Carl Spitzwegs Lieblingsfigur “POOR POETRY” entgegen. Der säkulare Nationalheilige des Landes der Dichter und Denker streckt seinen zornigen Mittelfinger voller Selbstmitleid irgendwem entgegen. Eine Hermès-Decke über den Knien, Porsche-Schlüssel, Chanel-Parfüm und andere Signifikanten des opulenten Luxus liegen griffbereit.
„AT MY AGE I NEED SERENITY.“ Eine schmutzige Wolke, so braun wie die rechte obere Ecke der vergangenen und aktuellen deutschen Politik, schwebt groß über seinem Regenschirm. Es gibt viele Möglichkeiten, die Arbeit zu lesen, eine von ihnen ist der Abgesang auf Deutschland. „Ich bin nach Amerika gezogen, weil ich das Gefühl hatte, dass es nichts mit dem zu tun hat, was man mir in Deutschland erzählt. Aber dann bin ich hierher gezogen und habe durch die Distanz meine eigene Kultur verstanden. Indem ich diese Welt mit dieser sehr deutschen existenziellen Vision konfrontierte, begann ich mich zu Hause zu fühlen“, sagte Kunath einmal in einem Interview mit GQ Spanien. Was also hat Deutschland mit dem zu tun, was der Maler ihm jetzt erzählt?
Kunath wurde 1974 als Kind progressiv gesinnter Eltern in der DDR geboren. In den 1980er Jahren musste die gesamte Familie nach West-Berlin ausreisen. Später studierte Kunath Malerei in Braunschweig bei dem Jungen Wilden Walter Dahn, bevor es ihn noch weiter westlich, bis ganz nach Pasadena, zog, wo er bis heute lebt und arbeitet. „ES SIEHT SO AUS, ALS HÄTTEN WIR ES GESCHAFFT.“ Ein deutscher Malerfürst ist Friedrich Kunath nicht geworden, schließlich gibt es in L.A. keinen Adel. Stattdessen wurde er geradewegs so etwas wie ein Künstlergott, der seine eigenen Entitäten erschafft. So macht man das in Hollywood.
Seine gemalten Biester leiden unter Liebe und Schmerz – und Scham, weil sie all diese Dinge fühlen.
„I COULDN’T HELP BUT FEEL SOMETHING.“ Entweder hat Kunath noch nie geliebt, oder er tut es mit einer Intensität, wie sie nur Götter aufbringen können. Es ist da, und es schmerzt: „YOU OWE ME A FEELING.“ Oder ist es alles Ironie? Auf seine überbordenden Kompositionen angesprochen, sagte der Künstler einmal: „Das Werk ist viel intelligenter als ich und weiß besser als ich, was es zu tun hat.“ Das mal augenzwinkernde, mal entblößende Vorführen von Gesellschaft, Kultur, Pop, es ist tief verwurzelt in Kunaths Werk: „I CAN’T HELP IT HONEY.“

One Day I’ll Follow The Byrds (Tutto Pasta) von Friedrich Kunath, Ausstellungsansicht (2024) Foto: Galerie Max Hetzler
Kunaths zynisches Spiel auf der Partitur trashiger Mainstream Ästhetik ist irritierend, schlägt es doch zu sehr in die Kerbe der vielzitierten Frage: What’s classy if you’re rich but trashy if you’re poor? Die Verwendung der vermeintlich luxuriöser Symbole unterstreicht dies noch, sind sie doch zu “neureich”, zu offensichtlich für das Begehren der Upper Class, die sich doch längst der quiet luxury verschrieben hat: Es nicht nur lächerlich, was du (nicht) hast, sondern auch, was du willst. „WE SEE THE THINGS THEY CAN NOT SEE.“ In der Tat, eine sehr deutsche „existenzielle Vision“ und eine Pose, die direkt in die bräunlichen Ecken der Gesellschaft führt.
Viel wird über die süße, süße Nostalgie in Kunaths Werk geschrieben, und in der Tat, da ist sie, so dickflüssig, man kann sie kaum schlucken. Die Sehnsucht nach der einfachen Vergangenheit. Nach einer Zeit, in der man Morrissey noch zuhören konnte, ohne über seine fragwürdigen Ansichten nachzudenken. Eine Zeit, in der Provokation einfach eine coole Pose war und „War nur ein Scherz“ eine gültige Ausrede. Eine Zeit, in der Ye noch Kanye war. Die Gegenwart ist ein verletzlicher Moment, und es ist leicht, sich auf der Suche nach dem verlorenen Trost zurück zur einfachen Welt von gestern zu sehnen. Kunaths postmodernes Prä-Internet-Post-Ironie-Werk schlägt dem Zeitgeist ins Gesicht. „WE’LL GET THERE SOON.“ Seine Bilder mögen komplex erscheinen, voller Schichten, Techniken, Referenzen, usw. doch zu häufig entlarven sie sich als ein einziger großer Witz. Wie die meisten Witze (wenn sie nicht gerade von Richard Prince gemacht wurden) fühlen sie sich nach 5 Minuten so alt an, wie das „LIVE FOREVER“-Stick- and Poke-Tattoo, das dir dein bester Freund auf der Party im Studentenwohnheim auf den Oberschenkel gehackt hat. Es ist leicht, sich über andere lustig zu machen, und es ist leicht, sich von dem süffisanten Witz und dem unglaublichen Aufwand blenden zu lassen. Und wenn es das ist, was du willst, was du wirklich, wirklich willst, gibt es im online Shop der König Galerie, die Kunath bis 2022 vertrat, noch immer eines seiner besten Werke: Für erschwingliche 25 Euro bekommt man eine Strandtuch-Edition: Zwischen Sonnenuntergang, Palmen, Kabeltelefon und dem unverzichtbaren Oasis-Logo formen darauf Kunaths kleine, zitternde Buchstaben die Worte „NEVER LIKED YOU, BUT STILL NOSTALGIC“.
One Day I’ll Follow The Byrds (Tutto Pasta) von Friedrich Kunath, Ausstellungsansicht (2024) Foto: Galerie Max Hetzler