Benjamin Kunath hat zwei Berufe. Er ist Künstler und auch U-Bahnfahrer.
In seiner künstlerischen Arbeit verschmelzen sie: die Welt der Kunst und die des Personennahverkehrs. Beobachtungen oder Ereignisse bilden den Startpunkt, von dem ausgehend Benjamin ein feines Konstrukt aus Linien und Wörtern entwickelt. Die so entstehenden Zeichnungen – „Notationszeichnungen“, wie Kunath sie nennt – erinnern an Mindmaps oder Diagramme. In anderen Serien überträgt er Dienst- und Fahrpläne in persönliche und protokollarische Aufzeichnungen. Auch sie handeln von Regelmäßigkeit und Monotonie, von Abweichungen oder Störungen.
Spichernstraße (2022)
Lena: Danke, dass du dir die Zeit nimmst, mit uns zu sprechen.
Kannst du uns etwas über deinen Werdegang erzählen? Wie bist du aufgewachsen und wie bist du zur Kunst gekommen?
Benjamin: Schön, dass es geklappt hat! Ich bin in Leipzig aufgewachsen und habe dort Medienkunst an der Hochschule für Grafik und Buchkunst (HGB) studiert. Schon als Kind habe ich viel gezeichnet. Diese Begeisterung hat zu der frühen Überlegung geführt, dass ich gerne Kunst studieren möchte. Mit dem Ziel an die Kunsthochschule zu gehen, habe ich mein Fachabitur in Gestaltung gemacht. Im Studium habe ich dann mit Raum und Performance oder Fotografie experimentiert, aber egal was ich ausprobiert habe, Zeichnungen waren immer ein Teil davon. So hat sich für mich nach und nach herauskristallisiert, dass diese für mich das Wichtigste sind.
Lena: Gibt es Vorbilder, die für deine künstlerische Entwicklung wichtig waren?
Benjamin: Als Kind war ich begeistert von Paul Klee. Mittlerweile ist die Künstlerin Hanne Darboven mein wichtigster Bezugspunkt. Das liegt vor allem am Konzeptcharakter ihrer seriellen Schreibzeichnungen und den vielen kleinen Rahmen. Mich interessiert das kryptische Element ihrer Kunst. Man kann ihre Arbeiten nie ganz durchdringen oder komplett erfassen, sondern es nur versuchen und sich ihnen immer wieder annähern.
Lena: Wie auch bei Hanne Darboven spielt das Schreiben eine wichtige Rolle in deinen Arbeiten. Bei dem Begriff der Zeichnungen würden viele erstmal an Landschaftsdarstellungen oder an Portraits denken. Wie bist du zum Wort gekommen?
Benjamin: In Leipzig Plagwitz gab es viele leerstehende Industriegebäude, die wir als Kinder spielerisch erkundet haben. Während meines Kunststudiums habe ich damit angefangen, architektonische Zeichnungen von den Gebäuden und ihren Grundrissen anzufertigen. Nach und nach kamen Anmerkungen wie die Namen, die wir als Kinder für die Orte hatten, hinzu. Irgendwann sind die Zeichnungen der Gebäude ganz weggefallen und dann waren nur noch die Worte übrig. Auf diese Weise wurden die Gedankenketten in Gang gesetzt, die einzelnen Namen und Begriffe durch Linien verbunden.
Zeitmaschine (2014)
Vögel (2022)
Lena: Wie bist du vom Kunststudium zum Straßenbahnfahren gekommen?
Benjamin: Als das BAföG wegfiel, brauchte ich einen Job zur Finanzierung meines Studiums. Aufgrund meiner Faszination für Gleise, Gebäude und Strukturen von Eisenbahnen bewarb ich mich bei der Leipziger Straßenbahn und absolvierte dort voller Freude in den Semesterferien eine Ausbildung. Schließlich wanderte dieses Thema in meine Zeichnungen. Kunst wollte ich immer machen, aber daneben hatte ich meinen Job. Das war für mich der Test, um zu sehen, was passiert, wenn das Thema der Lohnarbeit in die Kunst gehoben wird. Es war gut für meine Arbeit, weil es für mich das Problem gelöst hat, mich nicht erst nach Feierabend mit meiner Kunst beschäftigen zu können, sondern die ganze Zeit. Mit jeder Fahrt generiere ich Inspiration und Themen für meine Zeichnungen. Ich habe eine Phase, in der ich Input sammle und dann die Atelier-Ausarbeitungsphase, in der ich meine Notizen aufs Papier bringe. Das funktioniert auch deshalb gut, weil die reine Atelierarbeit natürlich nicht sehr abwechslungsreich ist. Andererseits wäre das Fahren allein auch zu monoton. Für mich ist diese Wechselwirkung mit der Input- und der Outputphase produktiv. Daneben kommen während der Fahrt neue Einflüsse wie Zeit, Pünktlichkeit oder der Fahrplan als Utopie der Straßenbahn hinzu.
Leonard: War es für dich eine politische Entscheidung, die Lohnarbeit in deine künstlerische Arbeit aufzunehmen?
Benjamin: Nein, zumindest nicht direkt. Aber natürlich kommt während des Studiums die Frage nach dem Lebensunterhalt auf, vor allem mit einer Familie. Es gibt eine politische Dimension, die aber nicht dazu führt, dass ich mich gegen Ausstellungen sträube oder mit dem Kunstmarkt nichts zu tun haben möchte. Ich habe nur schnell gemerkt, dass das Leben zwischen Stipendien und Arbeitslosigkeit mein kreatives Arbeiten hemmt.
Lena: Kannst du etwas zu deinen Zeichnungen sagen, die sich mit deinen Dienstplänen beschäftigen?
Benjamin: Auf den Zeichnungen vermerke ich, welchen Wagen ich auf welcher Linie in welchem Zeitraum gefahren bin. Hinzu kommen kleine Anmerkungen, die auf besondere Ereignisse wie beispielsweise Unfälle, eine Außenwerbung der Straßenbahn oder technische Dinge verweisen. Die Zeichnungen entstehen täglich nach meinen Schichten. Das ist ein weiterer wichtiger Aspekt dieser Serie, denn ich wollte mich selbst zwingen, nach jeder Schicht noch drei, vier Zeilen zu zeichnen. So funktionieren auch die Arbeitsschritte: zwei Zeilen, ungefähr eine Bahn vor der Pause und eine danach, an einem Tag oder einer Schicht.
Lena: Wie bist du auf diese Idee gekommen?
Benjamin: Die Serie baut auf einen schönen Moment in der Straßenbahn auf, als ich selbst zur Arbeit gefahren bin. Neben mir saßen zwei Fahrgäste, vermutlich ein Vater und sein Sohn, und sie haben voller Begeisterung die Wagennummern der Straßenbahn in ein Buch geschrieben und sich darüber unterhalten: „Ah, toll! Der Wagen 1111 heute wieder auf der Linie 4.“ Wie das Trainspotter*innen eben so machen. Dies fand ich so schön und rührend, dass ich dachte: „Ja klar ist es relevant, welcher Wagen auf welcher Linie fährt. Wenn das für die beiden wichtig ist, dann kann es das auch für mich.“
Ansichten der Ausstellung Gleisarbeiten im Laden für Nichts auf der Baumwollspinnerei Leipzig (2023)
Dienstplan Blatt-8 (2019)
Lena: Aus deinen Erklärungen geht hervor, dass deine Zeichnungen auch einen dokumentarischen Charakter haben. Sie sind streckenweise streng kalkuliert, zugleich gibt es visuelle Einbrüche wie schwarze Flächen oder Kleckse. Wie kommt es dazu? Und welche Rolle spielt der Zufall?
Benjamin: Bei den Schwärzungen wird die Oberfläche des Papiers aufgeraut, weil ich mit der Feder immer wieder über die gleiche Stelle gehe. Dadurch wird die Struktur des Papiers verändert. Selbst mit einer Lupe wäre keine Information mehr sichtbar. Mir ist es wichtig, an dieser Stelle in die Oberfläche des Papiers physisch einzugreifen, damit die Zeichnung eine plastische Qualität gewinnt. Es ist der dichteste und stärkste, zugleich aber auch unmöglich im Voraus kalkulierbare Moment der Zeichnung. Hierfür verwende ich meine eigenen, dem Zufall geschuldeten Schreibfehler, die ich dann schwärze. Der Aufbau selbst entsteht immer erst im Prozess des Zeichnens. Den Anfang bildet ein Gedanke, den ich mir bei einer Fahrt oder an der Endstelle notiert habe. Je komplexer ein Gedanke ist, desto komplexer werden auch die Gedankenkonstrukte und Zeichnungen. Das Zeichnen hat viel mit der Bewusstmachung von Unbewusstem zu tun und ist ein offener Prozess.
Lena: Mit deinem Umzug nach Berlin kam dann der Wechsel zum U-Bahnfahren. Wie war diese Umstellung für dich?
Benjamin: Mich hat interessiert, was das U-Bahnfahren mit mir macht, weil ich damit auch an sonst unzugängliche Orte komme. Die Fahrgäste sehen, zumindest wenn die U-Bahn unterirdisch fährt, nur die schwarze Tunnelwand. Deswegen schauen auch alle auf ihr Telefon. Der Blick vorne aus der Bahn eröffnet die Sicht auf die verborgene, unterirdische Seite der Stadt. Diese Begeisterung war allerdings schnell abgenutzt, weil es keine Veränderungen in den Tunneln gibt: weder Wetter, noch Jahreszeiten. Zeitweise habe ich mich bewusst mit jener Monotonie auseinandergesetzt und die immergleichen Tunnelpfeiler gezählt. Diese Eintönigkeit steht aber auch in einem Kontrast zu den vielen prekären und gefährlichen Situationen, die ich dort erlebt habe.
Beweis Klimawandel (2019)
Betriebsfahrt (2021)
Lena: Seit Oktober machst du bei der Deutschen Bahn die Ausbildung zum Triebfahrzeugführer im Fernverkehr. Kannst du schon absehen, wie sich deine Zeichnungen durch den Wechsel in den Fernverkehr verändern werden?
Benjamin: Meine Arbeit ist auf eine gewisse Art auch ein gedankliches Vermessen. Jetzt geht es nicht mehr nur um eine Stadt, sondern um ein ganzes Land. Das ist eine neue Ebene. Das Bahnsystem und das Streckennetz sind riesig und die Züge technisch extrem komplex. Außerdem gibt es mehr Tageslicht, mehr Landschaft und längere Strecken ohne ständiges Anhalten – ein großer Unterschied.
Lena: Konntest du seit Oktober schon an neuen Zeichnungen arbeiten? Kannst du uns etwas dazu verraten?
Benjamin: Ich habe zwar schon Notizen gemacht, aber die Zeichnungen beginnen erst nach der Ausbildung, sozusagen mit der ersten Fahrt alleine. Zunächst muss ich alles lernen und so verinnerlichen, dass das Fahren fast automatisch abläuft. Wenn ich diesen Punkt erreicht habe, kann ich beim Fahren auch über andere Sachen nachdenken.
Lena: Lieber Benjamin, vielen Dank für das Gespräch und die Einblicke in deine Arbeit!