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Außenansicht des Deutschen Pavillons auf der Biennale in Venedig 2022

Der fehlende Zentimeter: Ein Blick auf den deutschen Pavillon der Biennale in Venedig 2022

Unsere Autorin Norina Quinte hat den deutschen Pavillon auf der 59. Biennale in Venedig besucht und stellt fest, dass es der künstlerischen Arbeit und der Kuration an Mut fehle.

Trotz des strömenden Regens herrscht hervorragende Stimmung, als ich meinen 3,5-jährigen Sohn aus dem Café neben dem Hauptgebäude der Giardini schiebe. Es ist November 2022, die letzte Woche der 59. Biennale di Venezia. Vieles haben wir bereits angesehen. Die Hauptausstellung war sorgfältig kuratiert. Der Beitrag im französischen Pavillon von Zineb Sedira, einer feministischen Fotografin und Videokünstlerin französisch-algerischer Abstammung, befragt die west-europäische Geschichtsschreibung. Die cineastische Inszenierung war mutig, kritisch und auf eine so unangenehme Weise schön, dass sie einen nachhaltigen Eindruck bei mir hinterlassen hat. In venezianisch-chinesische Plastik-Ponchos eingewickelt bewegen wir uns in Richtung deutscher Pavillon. Ich nehme mir vor, mich später für die beachtliche Geduld meines Sohnes zu revanchieren. Mit Eis und einem originalen Murano-Glas-Tierchen, das wahrscheinlich doch  ganz wo anders produziert worden ist.

Einige Tropfen Regenwasser laufen mir den Nacken herunter, als wir auf das Gebäude mit seinem imposanten Eingangsportal zugehen. „Im „Deutschen“ ist was für dich“, hatte mir ein befreundeter Kollege gesagt, der meine Leidenschaft für Konzeptkunst, Reduktion und abstrahierte Formensprache kennt.
Die Kuration des deutschen Pavillons übernahm in diesem Jahr Museumskurator Yilmaz Dziewior, der die Künstlerin Maria Eichhorn einlud. Letztere ist allgemein dafür bekannt, sich in ihrer Arbeitspraxis mit deutscher Geschichte auseinanderzusetzen. Dem bleibt sie sich auch bei der Bespielung des Pavillons unter dem Titel „Relocating a Structure“ treu. 

Ich betrete den Pavillon. Links ein Tisch, an dem teilnahmslos eine Aufsicht sitzt, in ihr Handy vertieft. Geradeaus ist der Boden ausgehoben worden, was einen Einblick in eine archäologisch-wirkende Ausgrabung ermöglicht. Zum Vorschein kommt altes Mauerwerk und Fundament, etwas das nach einem schwarzen Schacht aussieht, eine kaminartige Backsteinstruktur. Viele alte Steine. Ein unscheinbarer Zaun markiert die Abgrenzung und sorgt dafür, dass ich oder gar mein Sohn nicht in die freigelegte Geschichte hineinfalle.

An den weißen Wänden der Innenräume wurde Putz freigelegt, sodass die ehemalige Architektur des ursprünglich bayerischen Pavillons (sozusagen die „Erstausgabe“ des Pavillons von 1909) erahnt werden kann. Mit ernster Miene, es geht immerhin um die Nazi-Zeit, so viel habe ich verstanden, durchlaufe ich das Gebäude und warte darauf, dass mit mir etwas passiert. Außer dem Gefühl, einen abstrakt-historischen Zeigefinger auf die Brust gedrückt zu bekommen, mit dem ich gerade nicht viel anzufangen weiß, passiert allerdings leider nichts. Mit der Aufsicht habe ich etwas Mitleid. Sicher sitzt sie den ganzen Sommer schon dort, ratlosen Blicken ausgeliefert, schulterzuckend.

Innenansicht mit teilweise freigelegtem alten Mauaerwerk und offengelegtem Boden im Deutschen Pavillon auf der Biennale in Venedig

Beim Verlassen des Pavillons entdecke ich erleichtert einen Beschreibungstext neben dem Eingang. Im Text steht, dass Maria Eichhorn sich mit der Geschichte des deutschen Pavillons auseinandersetzen würde. Die Intervention im Pavillon, durch welche die Künstlerin „verborgene Strukturen“ ersichtlich werden lassen möchte, wird durch eine ausführliche Publikation und das Angebot regelmäßiger Stadtführungen ergänzt. Jene Stadtführungen, die an diesem Tag nicht angeboten werden, führen zu Orten, die an die Deportation der jüdischen Bevölkerung zwischen 1943 und 1945 erinnern oder an denen antifaschistischer Widerstand geschah. Das Begleitprogramm und ergänzende Information scheinen essenziell für die Entschlüsselung des künstlerischen Beitrags zu sein, der von Kurator und Künstlerin ausdrücklich als „Projekt“ bezeichnet wird. 

Ursprünglich hatte Eichhorn, so heißt es, den gesamten Pavillon verschwinden bzw. versetzen lassen wollen. An die Stelle des Länderpavillons wäre somit eine Leerstelle getreten. Das klingt nach einer konsequenten Idee. Im Presse- und Begleittext ist diesbezüglich von „Trans- und Relozierung“ die Rede. Technisch wäre jene Verschiebung wohl sogar möglich gewesen, wurde dann aber doch wieder verworfen. Wieso, bleibt offen, der Kurator verweist in einem Interview auf das fehlende Budget. Ist das vorzufindende Projektergebnis also vielmehr „Kompromiss“ und lediglich „abgespeckte“ Variante einer ursprünglich mutigen Idee?

Trotz aller Sympathie für die Ausgangsidee und größtem Respekt vor dem Thema unserer düsteren deutschen Vergangenheit, fühle ich mich durch Eichhorns Intervention nicht angesprochen. Weder durch den (dekorativ) abgetragenen Putz, noch durch die Ausgrabung, ebenso wenig durch die Leere im Raum, nicht durch den Begleittext. Ich frage mich, wo die (in der Pressemeldung beschriebene) „widerständige Rolle der Kunst“ ersichtlich wird. Die Geschichte des deutschen Pavillons zu thematisieren, ist kein neuer Coup. So wurde sich in der Vergangenheit bereits mehrfach „widerständig“ an ihr abgearbeitet. Betrachte man z.B. Hans Haackes „GERMANIA“ von 1993, wo er anlässlich der 45. Biennale den gesamten Boden aufriss und sehr eindrucksvoll und provokant auf die Nazi-Vergangenheit des Gebäudes aufmerksam machte. 

Widerstand hat mit Mut zu tun. Auf den früheren Mut antifaschistischer Aufstände verweist die Künstlerin zwar durch angebotene Führungen. In ihrer eigenen Arbeit fehlt jedoch leider solch ein mutiger Gestus. Oder glaubt wirklich jemand, dass es heute Mut benötigt, etwas Putz von den Wänden eines Ausstellungsortes zu nehmen? Fans der Arbeit mögen meinen, dass in der Konzeptkunst das reine Gedankenexperiment bereits zählt. „Es ist doch die Idee und der Hinweis auf eine mögliche Versetzung, um die es geht, unabhängig davon, ob diese dann realisiert wurde“, höre ich sie in meinem Kopf argumentieren. Dessen bin ich mir nicht sicher. Eine Idee kann nämlich nur dann widerständig sein, wenn es Mut kostet, sie zu äußern.

Einen solchen Mut bewies zum Beispiel die Künstlerin Judith Milz, die zwischen 2010 und 2013 ein vergleichbares Anliegen verfolgte. Während sie noch als Studentin an der Hochschule für Gestaltung Karlsruhe eingeschrieben war, befasste sie sich intensiv mit der Geschichte des Hochschulgebäudes, einer ehemaligen Munitionsfabrik und entwickelte die Arbeit „Verschiebung der HfG um einen cm“. Bestandteil der Arbeit ist die tiefergehende Auseinandersetzung mit der Verortung von Geschichte, aber auch der praktische Ansatz, sämtliche zuständige Ämter und Behörden mit der „Neu-Platzierung“ und Verschiebung der Architektur zu konfrontieren. So erlang sie im Laufe der Verschiebung einen offiziellen Gestattungsvertrag, der die konzeptionelle Ebene in eine reale Gegebenheit überführte. Dieser Spagat zwischen Gedankenexperiment und vollzogener Tat gelingt Milz durch die Klarheit ihrer Erzählung, die durch das Zusammenspiel von Narrativ, Titel und Dokumentation das Potenzial und die Auswirkungen einer Verschiebung deutlich werden lässt. 

Das Widerständige liegt in diesem Fall klar auf der Hand: Eine Studentin verschiebt alleine (!) die gesamte Hochschule, hinterfragt historische Zusammenhänge und versucht ein „Geraderücken“ der Geschichte, in das sie den gesamten Studien- und Verwaltungsbetrieb involviert. Milz stellt in Bezug auf ihre Arbeit rückblickend fest: „Dass es nichts gibt, worüber ich mir so sicher bin, wie darüber, die Verschiebung geleistet zu haben.“ Sie erzählt in ihrer Arbeit nicht etwa von dem Potenzial einer Versetzung, sondern vollzieht die Versetzung. Hier spielt es tatsächlich keine Rolle, ob die „Re-Location“ gedanklich stattfindet oder real vollzogen wird. In diesem einen Zentimeter Behauptung, für das bloße Auge nicht erkennbar und doch zustandsverändernd, zeigt sich die mutige künstlerische Auseinandersetzung mit der eigenen Recherche.

Bei Eichhorns „Relocating a Structure“ vermisse ich diesen einen Zentimeter Mut. Ich finde keine Ebene, auf welcher erfolgreich „neue Potenziale und Möglichkeiten im Umgang mit nationalsozialistischer Architektur“ oder mögliches „Verrücken von Strukturen“ verhandelt werden, wie es der Titel verspricht. Denn wenn nicht einmal die weltgrößte Kunstausstellung der Welt im Stande ist, Gebäude zu versetzen, wer denn dann?

Hintergründe zum Deutschen Pavillon und der künstlerischen Arbeit von Maria Eichhorn auf der Seite der Website des Pavillons.

Trebing, Saskia (2022) Deutscher Pavillon in Venedig. Ans Fundament. Monopol Magazin.

Lorch, Catrin (2022) Biennale in Venedig. Was der Putz erzählt. Süddeutsche Zeitung.

Alle Bilder von Norina Quinte.