Keramik ist im Trend, wissen wir schon. Der Kurs an der Drehscheibe ist ein Standard-Weihnachtsgeschenk, Kaffee trinkt man in handgefertigten Keramiktassen und ja, auch in der zeitgenössischen Kunst sieht man seit einer Dekade immer mehr Keramik.
Große Galerien haben Keramik-Künstler*innen im Programm, mit der Ceramic Brussels feierte letztes Jahr die erste Messe für zeitgenössische Keramik Premiere, und auch die institutionellen Ausstellungen mehren sich: Bis Anfang 2023 zeigte das Southbank Centre in London Strange Clay: Ceramics in Contemporary Art, im selben Jahr war im Krakauer Museum für zeitgenössische Kunst Return to Ceramics zu sehen, und auch bei der 2022 von Cecilia Alemani kuratierten Ausgabe der Venedig-Biennale gab es einen ganzen Raum voller Keramik.
Besonders an all diesen Ausstellungen ist, dass sie Keramik nicht mehr in der Sphäre des Kunsthandwerks oder Designs verorten, sondern in der zeitgenössischen Kunst. Während Keramik, vor allem in Form von Porzellan, in ihrer Blütezeit ab dem 17. Jahrhundert möglichst glatt und strahlend weiß aussehen sollte, sind heute die meisten der Skulpturen aus Ton alles andere als makellos. Sie sind unperfekt, haben etwas Uriges, Verwunschenes, Wurzeliges. Sie wirken, wie der Titel der Ausstellung im Southbank Centre es schon sagt, strange. Was hat es mit dieser urwüchsigen Strangeness der Keramik auf sich?
Keramik und Care-Arbeit als feministischer Befreiungsschlag
Auf der Suche nach einer Antwort kam es zu einer Art Dominoeffekt. Der Besuch bei der einen Künstlerin ergab den bei der nächsten und so weiter. Dass das Material offenbar die Leitung übernommen hat, passt nur zu gut zu den Erfahrungsberichten der Künstlerinnen über ihre Arbeit mit Ton: Denn sie alle haben erzählt, dass dem Material eine irgendwie magische Aktivität eigen ist, die sich nicht ganz kontrollieren lässt. So gleiche das Öffnen des Ofens nach dem Brennen jedes Mal dem Aufmachen einer Black Box und halte eine Überraschung bereit, auf die sie niemals müde werden, hinzufiebern. „Clay has a mind of its own“, sagt Emily Hunt, mit der ich mich im Laufe meiner Recherche unterhalte. „You can force clay, but it will often decide that it’s alive.“ Den Ofen zu schließen bedeutet, die Kontrolle abzugeben und zu vertrauen, dass der Prozess etwas Gutes ergibt – auch wenn es vom ursprünglichen Plan völlig abweicht.
An einem grauen Winternachmittag fahre ich zur Künstlerin Nschotschi Haslinger nach Berlin-Weißensee. Ihre Arbeiten entsprechen genau der Strangeness, die ich mit der zeitgenössischen Keramikskulptur verbinde. In der Gruppenschau Wifi & Watercolour in der Wiener Galerie Zeller van Almsick waren gerade Werke von ihr zu sehen. In einer Badewanne kringelten sich dort schlangenähnlich lebendig wirkende Keramikzahnbürsten, als wären sie gerade aus dem unterirdischen Rohrnetz durch den Abfluss ans Tageslicht gekrochen. Liest man die Zahnbürsten als ständige Begleiter care-arbeitender Mütter, die Tag für Tag viel Energie aufbringen, um ihren Kindern die Vorteile dieser Pflegewerkzeuge nahezubringen, dann wirkt ihre Verwandlung in vielleicht giftige Schlangen wie ein, zugegeben brutaler, aber ja natürlich nur symbolisch gemeinter Befreiungsschlag.

Nschotschi Haslinger, Zahnbürste (Atem), Installation view Wifi & Watercolors, Zeller Van Almsick, 2024. © Foto Simon Veres
Das Arbeiten mit dem Urmaterial Ton ist für Haslinger mit spirituellen und feministischen Aspekten verbunden. Neben Keramikpuppen in der Größe von Kleinkindern und riesigen Keramikschuhen mit Füßen darin, finden sich in ihrem Atelier brennende Keramiktaschen, aus deren Inneren Flammen in die Höhe schießen und deren Formen zuweilen an eine Vagina oder einen offenen Mund denken lassen. Und viel hier ist spitz: Schuhspitzen, Fingernägel, Zungen, Flammen, Nasen. Haslinger bezeichnet das Spitze und Krallige als eine Art „Neuverhandlung des unterdrückten, dämonisierten Animalischen“. Der Verweis auf die unterdrückten, subversiven Kräfte passt. Haslingers Arbeiten eignet etwas „Hexiges“.
Vielleicht sind die aggressiven Mäuler der Taschen, aus denen Flammen emporzüngeln, wie eine Warnung zu verstehen: Wer mit den Erwartungen im Kapitalismus schritthalten will, neigt dazu, sich selbst zu verbrennen. Das gilt auch für Künstlerinnen, insbesondere für alleinerziehende Mütter, wie Haslinger. Aber natürlich deuten die Flammen auch auf die transformatorische Hitze des Ofens hin, in dem der Ton gebrannt wird, und, schlägt man einen großen historischen Bogen, verweisen sie auch auf die tödliche Hitze des Feuers, das während der Hexenverfolgungen seit dem Mittelalter missbraucht wurde, um Frauen, insbesondere Heilerinnen und Hebammen, zu töten. Während das Feuer in der Geschichte als zerstörerisches Mittel patriarchaler Gewalt diente, wird es in der Keramikkunst zum Werkzeug der Schöpfung und Selbstermächtigung. Nach unserem Treffen schreibt Haslinger mir eine Mail mit den Namen weiterer Künstlerinnen, die mit Keramik arbeiten und schickt einige Lesetipps. Darunter auch die Bücher der italienischen Philosophin Silvia Federici. In Caliban und die Hexe, im italienischen Original 2004 erschienen, geht es genau um diesen Zusammenhang zwischen Hexenverbrennungen und Kapitalismus.
Nschotschi Haslinger, Zahnbürste (Atem), Installation view Wifi & Watercolors, Zeller Van Almsick, 2024. © Foto Simon Veres
Aufbegehren mit Haaren aus Ton
Die nächste Künstlerin, die ich treffe, ist Nigin Beck. Sie hat Visuelle Kommunikation und Bildhauerei studiert. Zur Keramik hat sie erst nach dem Studium gefunden. „Keramik ist unkontrollierbar und gleichzeitig ist die Arbeit damit so beruhigend. Du hast die Hände in der Erdmasse.“ Becks Mutter kommt aus dem Iran, wo man sich als Frau im öffentlichen Raum verdecken muss – vor allem die Haare. „An den Haaren der Frau hängt dort ein ganzes Regime der Unterdrückung“, sagt sie, während wir vor einem Tisch mit Keramikgefäßen stehen. Jedes davon hat Haare: Entweder hat Beck mit einem kleinen Werkzeug Rillen in die Oberflächen eingearbeitet, sodass sie einer felligen Haarpracht gleichen, oder sie hat Zöpfe aus Ton geformt und diese wie Henkel seitlich an die Keramikgefäße angebracht. Ganz schön viel Arbeit. Beck nickt: „Die Care-Arbeit, die man als Frau und Mutter macht, ist der Arbeit mit der Keramik nicht unähnlich.“ Der Ton muss trocknen, lang in den Ofen, wird bearbeitet, eventuell glasiert, und kommt dann nochmal in den Ofen. Die stundenlange Zuwendung ist für Beck auch eine Erklärung dafür, warum die Keramikskulptur derzeit so viel Aufmerksamkeit erfährt. „Keramikarbeiten sind aus einem Material gemacht, das jemand über Stunden angefasst und geformt hat. Folglich fasst es einen an.“

Nigin Beck, Hair vases © Foto Nigin Beck
Füttern und Aufbewahren
Der Besuch bei Olga Monina, die 1989 im ukrainischen Charkiw geboren ist und in Leipzig Malerei und Grafik studiert hat, eröffnet mir eine weitere Perspektive auf Keramik. Während es anfangs um Magie, Hexen, Ritual und Care-Arbeit ging, interessiert sich Monina für die alltägliche Verwendung von Keramik beim Essen und Trinken. Sie stellt zwei Tassen – aus eigener Produktion – auf den Tisch. Beide sind dickwandig, rundlich, die dunkelgraue Oberfläche sieht grobkörnig aus. Die eine der beiden hat die Form eines Tiergesichts und auch der Wasserkrug aus Ton hat zwei Öffnungen in Form von Schweinegesichtern.
Seit ein paar Jahren veranstaltet Monina mit ihren Keramiken Dinnerabende. Diese nennt sie „Glücksfütterung“. An den tierischen Formen ihres Geschirrs ist ihr gelegen, weil man durch das Benutzen der Keramik dem Tierischen näherkommt. Man trinkt aus einem Schweinegesicht und währenddessen „schlabbert man sich möglicherweise voll“. Für traditionelle Rezepte und regionale Variationen davon interessiert sich Monina, weil deren Entwicklung auch auf historische Ereignisse, wie erzwungene Umsiedlungen oder Armut durch Kriege hinweisen. „Das Brennen als Ritual ist dabei archaisch und irgendwie auch brutal“, sagt Monina, „als könnte man dem Material die Geschichte ausräuchern.“
(1 und 2) Olga Monina, Glücksfütterung, Installationsansicht, Wo wir sprechen, Kunstverein Bielefeld, 2024. © Foto Fred Dott
(3) Olga Monina, Rezeptgeschichtsbilder, Installationsansicht Cala Berlin, 2023. Keramik auf gerußtem Holz, 26 x 20,5 x 18 cm. © Foto Thomas Krüger
Zu guter Letzt spreche ich mit der bislang einzigen Künstlerin, die weder Malerei noch Bildhauerei, sondern Keramik studiert hat. Und zwar in Halle, an der Burg Giebichenstein. Sarah Pschorn, geboren 1989 in Dresden, lebt heute in Leipzig und hat schon als Kind angefangen, mit Ton zu arbeiten. Angesprochen auf die Eigendynamik, die „Magie“ des Tons, reagiert Pschorn ganz rational: „Das sind chemische Prozesse, die man natürlich nie komplett vorhersagen kann.“ Online schaue ich mir Installationsansichten ihrer Einzelausstellung Records of Gravity im Bremer Gerhard-Marcks-Haus an. Ihre Skulpturen in der Ausstellung – vornehmlich Gefäße – sehen aus wie riesige Röhrengewächse einer farbintensiven Unterwasserwelt. „Wenn man Gefäße macht, bezieht man sich immer auf eine jahrtausendealte Tradition.“ Mit diesen Bezügen lässt sich natürlich auch spielen.
(1) Atelieransicht Sarah Pschorn, Leipzig 2023. © Foto Sarah Pschorn. (2) Sarah Pschorn, Rose Queen Crab, 2024. © Foto Sarah Pschorn. (3) Sarah Pschorn, Rose Queen Crab (Detail), 2024. © Foto Sarah Pschorn. (4) Sarah Pschorn, Pirates Gospel 2, 2022. © Foto Jakob Adolphi. (5) Sarah Pschorn, Pirates Gospel 2 (Detail), 2022. © Foto Jakob Adolphi. (6) Sarah Pschorn, Ausstellungsansicht PARADIES, RECORDS OF GRAVITY, 2023, Gerhard-Marcks-Haus, Bremen. © Foto Rüdiger Lubricht.
Die in Berlin lebende österreichische Künstlerin Uli Aigner zum Beispiel, die das Projekt verfolgt, bis an ihr Lebensende 1.000.000 weiße Porzellangefäße mit ihren eigenen Händen zu drehen, schlägt mit ihren Arbeiten eine Brücke zwischen Formgebungen aus unterschiedlichen Zeiten. Aktuell hat Aigner im Rahmen einer Edition für die Königliche Porzellan-Manufaktur Berlin 150 Becher und 150 Schalen aus einer Bauhaus-Kollektion der Künstlerin Trude Petri in ihre eigene Formsprache übersetzt. „Je nachdem, wie man eine Kurve legt, ruft man eine bestimmte Epoche ins Gedächtnis“, bestätigt Pschorn. „Griechisch, Jugendstil – für mich fühlt sich das manchmal so an, als würde ich aus anderen Epochen zitieren.“ Und dadurch ist auch immer die Frage präsent, in welcher Epoche wir jetzt leben. Warum ist Keramik gerade jetzt so wichtig?
Uli Aigner, ONE MILLION, Edition Approximately 500 ml, Limoges Porzellan, transparent glasiert. © Foto Tom McCallie
Das Gefäß als Gegenentwurf
Ich trage die Frage einige Wochen mit mir rum. Schließlich meine ich, eine mögliche Antwort in einem Ausstellungstext zu finden, den mir Pschorn nach unserem Gespräch per Mail schickt. Er lag 2022 auf der Biennale in Venedig aus. Sie hat ihn abfotografiert, weil er sie damals so bewegt hat.
In dem Text geht es um eine feministische Lesart der Technologiegeschichte, die von einer neuen Definition des Gefäßes ausgeht. Dieser Ansatz findet sich in dem Essay „The Carrier Bag Theory of Fiction“ der amerikanischen Autorin Ursula K. Le Guin von 1986. Statt der phallischen Jagdpfeile und Speere, die oft als erste technologische Errungenschaften des Menschen betrachtet werden, erinnert Le Guin daran, dass unsere Vorfahren zunächst einmal Gefäße machen mussten, um darin Nüsse, Beeren, Früchte und Getreide sammeln zu können. Das Gefäß wird von Le Guin dabei nicht bloß als passiver Container zur Aufbewahrung von etwas betrachtet, sondern als Technologie, die zur Weitergabe von Nahrung, Wissen und Geschichten dient, und damit aktiv beteiligt ist, nicht nur an der Fürsorge, sondern auch an der Fortentwicklung des Menschen.
Vielleicht ist es also kein Zufall, dass sich vor allem weibliche Künstlerinnen zu der Arbeit mit dem Material Ton hingezogen fühlen. Überträgt man diese neue Ikonologie des Keramikgefäßes auf die gesellschaftliche Ebene, dann lassen sich mit ihr Klischeevorstellungen weiblich konnotierter Passivität hinterfragen, denen zufolge gebärfähige Körper als passive Gefäße zur Reproduktion betrachtet werden und Care-Arbeit als unentgeltliche, unsichtbare Arbeit gilt, statt als aktiver Beitrag für das Funktionieren der Gesellschaft. Auch wenn die politischen Entwicklungen dagegen sprechen, scheinen die strangen Auswüchse des Nicht-Linearen, des Nicht-Phallischen, des Nicht-Kontrollierbaren schon unter der Oberfläche Wurzeln geschlagen zu haben, und nur darauf zu warten, in Form von Keramikzahnbürsten als giftige Schlangen ans Tageslicht zu kriechen.
Etwas aus der Erde setzt sich zur Wehr.