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Documenta 15: Sechs Dinge, von denen ich hoffe, dass sie nicht daraus resultieren

Ato-Gründerin Hannah Klein schreibt an dieser Stelle über Kunstausstellungen – dieses Mal geht es in einem kritischen Rückblick um die documenta 15.

documenta 15: Was bisher geschah

Anfang 2019 (damals ahnte man noch nicht, wie gut die documenta die verschiedenen Pandemie-Phasen abpassen würde) ging ein Raunen von Kassel aus in die internationale Kunstwelt: die nächste documenta, die größte internationale Kunstschau, würde von der 10-köpfigen, indonesischen Künstler*innengruppe ruangrupa kuratiert werden.

Was anfangs für alle eurozentrisch geprägten Kunstkenner*innen ein unbekanntes Wort war, sollte spätestens zur Eröffnung 3 Jahre später in aller Munde sein: lumbung. lumbung ist ein Begriff, der seinen Ursprung in der Landwirtschaft hat und für das kollektive und gerechte Verwalten von Nahrungsmitteln steht. ruangrupa brachte diesen Begriff in die Kunstwelt. Er steht für eine kuratorische Praxis, die lokale Verankerung, Humor, Großzügigkeit, Unabhängigkeit, Transparenz, Genügsamkeit und Regeneration vereint.

Mit diesem Ansatz lud ruangrupa künstlerische und politische Kollektive aus der ganzen Welt zur documenta. Sie konnten Orte in Kassel bespielen, die teilweise noch nie für die Öffentlichkeit zugänglich waren. Das heißt, dass sie für die vorherigen documenta-Editionen keine Rolle gespielt haben. Zentrale Gebäude der Kunstschau blieben dafür teilweise unbespielt. Die Erwartungen vor der Eröffnung der documenta 15 waren groß. Es wurde von einem völlig neuen System gesprochen und man fragte sich, welchen Einfluss diese doch so andere documenta langfristig auf das Kunstgeschehen haben würde.

Relativ kurz nach der Eröffnung Mitte Juni überschattete dann aber ein Skandal alle Diskussionen: das ebenfalls indonesische Kollektiv Taring Padi zeigte ein Bild, welches klar zu erkennende antisemitische Zeichnungen enthielt. Das Bild wurde zunächst mit einem schwarzen Tuch verhangen und kurz darauf gänzlich entfernt. Die Diskussion ging in der Presse und teilweise auch in Talks vor Ort weiter und schlussendlich trat Mitte Juli documenta-Direktorin Sabine Schormann zurück.

Bazon Brock, seines Zeichens Denker im Dienst, sprach vom Ende der Kunst. Es wurden auch Stimmen laut, die documenta 15 vorzeitig zu beenden, denn sie werde ihrem Anspruch der Kunstvermittlung nicht gerecht. Dies ist bisher nicht geschehen.

Ganz persönliches Zwischenfazit

Berechtigterweise gab es starke Diskussionen – wegen des Gemäldes von Taring Padi, der fehlenden Kunst, der fehlenden Autonomie der Kunst (Kunst muss nicht immer politisch sein), der fehlenden Autorenschaft (zum Beispiel bei Kollektiven) – der fehlenden Vermittlung an sich.

Bei diesen Diskussionen möchte ich den Menschen vom Fach den Vortritt lassen und fühle mich, aus einer privilegierten, weißen Gesellschaft kommend, nicht ermächtigt, vollumfänglich zu urteilen. Allerdings begleitet mich bei all den Debatten eine große Sorge. Die Sorge vor einer rückwärts gewandten Reaktion auf die documenta 15 nach dem Motto „ich habe es dir doch gesagt, so kann das nicht funktionieren und früher war eh alles besser“.

Daher möchte ich 6 Dinge festhalten von denen ich hoffe, dass sie NICHT die Reaktion auf die documenta 15 sind:

1. Kunst nicht zeigen, wenn sie aus einem eurozentrischen Blick erstmal nicht als Kunst angesehen wird
Ich hoffe, die documenta bleibt auch weiterhin ein Ort, an dem auch Kunst gezeigt wird, die nicht dem derzeit gegenwärtigen Blick auf Kunst entspricht. Meiner Meinung nach muss das Verständnis von Kunst langfristig global funktionieren. Dies braucht einen neuen Blick auf die künstlerische Praxis, welche im Kontext einer bestimmten Kultur entsteht. Und das wiederum kann bedeuten, dass man seinen gewohnten „Kunstblick“ hinterfragen oder sogar ablegen muss.

2. Nur namhafte Künstler*innen zeigen
Bekannte Künstler*innen brauchen keine Diskussion mehr über die Legitimität ihrer Kunst. Auch kann man sich über den nötigen Wow-Effekt und eine gewisse Anerkennung (wenn auch kritisch) sicher sein. Die Aufgabe einer internationalen Kunstschau sollte es aber auch sein, unbekannte Künstler*innen zu zeigen, um so einen umfassenden Blick auf die Kunstwelt zu ermöglichen. Und uns alle nicht mit alten Kamellen zu langweilen, pls!

3. Kollektive nicht mehr ernst nehmen
Kollektive leisten wichtige Arbeit in der Kunst, in der Musik, im Theater, in der Politik. Insbesondere wenn darauf Wert gelegt wird, unterschiedliche Kompetenzen zu ergänzen, können sie eine unglaublich starke Umsetzungskraft entwickeln und aus „Nichts“ Projekte stemmen. Bei politischen Aktionen können sich die Mitglieder*innen gegenseitig schützen, da es ja gerade keine explizite Autor*innenschaft gibt. Ein Fakt, der gerade in instabilen Ländern nicht außer Acht gelassen werden sollte.

4. Strenge Hierarchien im Kurator:innen Team
Bitte kein alter weißer Mann, der mit strenger Hand durchregiert. Bitte!

5. Dass Kunst nicht mehr als offener Austausch gedacht wird, der auch Spaß machen darf
Von Venedig, nach Basel, nach Kassel und überall die Highlights der vollgepackten Shows und Messen mitnehmen – viele Kunstinteressierte sind oft nur kurz an einem Ort, um sich blicken zu lassen und nichts zu verpassen. Dass man auf der documenta 15 aktiv dazu aufgefordert wurde, rumzuhängen, zu verweilen und zu diskutieren, war dagegen eine sehr angenehme Abwechslung, die tatsächlich nachhaltig wirkt.

6. Nichts Neues mehr wagen
Das fasst die oberen Punkte zusammen und heißt so viel, wie „Wenn nur die Erwartungshaltung an die documenta bedient wird, verpassen wir die Innovation und Verbesserung unseres Kunstsystems“.

Ganz persönliches Fazit

Ich möchte mir nicht anmaßen, in der sehr komplexen Debatte rund um die documenta 15 ein finales Urteil zu fällen. ABER ich will hoffen, dass es ein Konflikt ist, aus dem man lernt und der bitte, bitte mehr Fortschritt als Rückschritt in die Kunstwelt bringt.

Viel Diskussionen und viel Entspannung während des documenta Besuchs des ato-Teams:

Die documenta 15 praktiziert lumbung.

Monopol Podcast (2021) Was haben die vor? Monopol Magazin.

Documenta in Kassel. Künstlergruppe Taring Padi entschuldigt sich (2022). Süddeutsche Zeitung.

Köhler, Michael (2022) Kunsttheoretiker Bazon Brock. Documenta 15 ist die „Re-Fundamentalisierung der Kunst“. Deutschlandfunk.

Titelbild von Hannah Klein. Filmstill „Football Commando“, Ramon Film Productions, Wakaliwood. Gezeigt auf der documenta 15.