Vor rund einem Jahr ist mir etwas sehr Einprägsames passiert: Ich war unterwegs in Köln zu einigen Galerieeröffnungen, mein Blog noch in den Kinderschuhen, meine Handynotizapp bereit, neue Gedanken für die nächste Rezension festzuhalten. Der letzte Stopp des Abends war eine Gruppenausstellung. Als ich etwas länger an einem Kunstwerk verweilte, ergriff die anwesende Künstlerin die Gelegenheit, mit mir über ihre Arbeit ins Gespräch zu kommen. Ich hörte interessiert zu, stellte Fragen zu ihrem gewählten Material, zur Technik, blätterte die ausliegenden Kataloge durch. Sie sprach transparent über die finanziellen Herausforderungen des Künstlerinnendaseins in den 70er und 80er Jahren, die umständliche Vereinbarkeit von Familie und Karriere, Dayjobs in der Kultur, die die Miete zahlen. „Wir Frauen müssen zusammenhalten, ganz besonders in der Kultur!“ Ich nickte begeistert. Ich glaubte bis zu diesem Zeitpunkt, einen Austausch auf Augenhöhe zu führen. Doch als sie mich nach meinem Bezug zur Kunst fragte und ich sagte, dass ich Kunstgeschichte studiere und Kunstkritikerin bin, sah ich ihr Lächeln fallen und ihre Stirn sich in Falten legen. Ja geradezu mit Entsetzen sah sie mich an und fragte: „Mit welcher Lebenserfahrung sollen Sie denn bitte Kunstkritik schreiben?!“
In einem gewissen Sinne hatte die Künstlerin recht: Mir mangelte es in diesem Moment tatsächlich an Lebenserfahrung. Lebenserfahrung, mit der ich wissen würde, dass ich dieses Gespräch guten Gewissens abbrechen kann. Dass ich weitergehen kann. Dass ich mir unfundierte Kritik einer Person, die nichts über meine Arbeit weiß, nicht anzuhören brauche. Und gerade aus jener mangelnden Lebenserfahrung blieb ich weiter angewurzelt an der Stelle stehen, verlegen lächelnd, während das kalte Wasser, das sie mir eben über den Kopf geschüttet hatte, an mir heruntertropfte.
Ich begann mich zu erklären. Ich gehe viel in Ausstellungen, ich schaue mir Kunst genau an, ich mache Atelierbesuche, sagte ich und hoffte, mit meinen unbeholfenen Rechtfertigungen ein Handtuch zu basteln, mit dem ich mich abtrocknen konnte. Doch jedes weitere Wort ließ das Podest unter den Füßen der Künstlerin höherschießen, von dem aus sie noch heftiger zu mir herabsprach. Ich solle lieber zur Volkshochschule, Kurse belegen, selbst Kunst machen. Ein Argument, das nach „Wenn du selbst in diesen Schuhen stecken würdest als Künstlerin, hättest du ganz anders Reden“ klang. Außerdem wäre es Quatsch, Künstler*innen zu ihrer Arbeit zu befragen. Sie streckte den Kopf zur Seite, da ihr die bis zur Decke reichende Ironie, die sie gerade selbst zwischen uns beide gestellt hatte, die Sicht blockierte. Jedenfalls solle ich gucken, nicht reden. War der eben noch heraufbeschworene Zusammenhalt von Frauen in der Kunst jemals in the room with us?

Meme: Jennifer Braun
Oh Wunder(kind)!
Alter ist in der Kunst so eine Sache. Für Künstler*innen ist es kein Problem: Wunderkinder liebt die Kunstgeschichte – und der Markt erst recht. Der Renaissance-Freskenmaler Giotto soll der Legende nach als kleiner Hirtenjunge beim Zeichnen der Schafe entdeckt worden sein. Der Venezianische Barockmaler Tizian wurde als Neunjähriger Azubi der Bellini-Brüder. Da wird keine Kinderzeichnung weggeschmissen, wenn sie entdeckt wird. Der vom Kunstmarkt bis heute teuer gehandelte (wenn auch von Art Professionals mit Augenrollen tolerierte) Leon Löwentraut machte schon mit 16 Jahren Furore in der deutschen Presse. Letztes Jahr war das Staunen groß, als die Eltern des dreijährigen Laurent Schwarz dessen Bilder für hunderttausende Euro verkauften. Ja aber das ist doch nicht der große Legacy-Kunstmarkt, auf dem die beiden gehandelt werden!, mag vielleicht jemand dazwischenrufen. Nur vier Jahre nach ihrem Abschluss am Royal College of Art ging 2021 eine Arbeit von Jadé Fadojutimi für umgerechnet rund 730 Tausend US-Dollar bei Philipps Hong Kong unter den Hammer. 2022 nahm die Mega-Gallery Gagosian die 27-jährige Anna Weyant unter Vertrag. Seit letztem Jahr repräsentiert Pace die 1997 geborene Li Hei Di.
Jung sein ist also gar kein Problem, solange man für das Kunstsystem produziert. Denn: das System Kunst und der Gegenstand Kunst sind keine gleichwertigen Partner. Der Manager hält seinen produktiven Popstar-Schützling fest im Griff. Sobald man sich aber auf die institutionskritische und analytische Seite begibt, wird’s heikel.
Oh, Legitimierung!
Im Frühjahr 2023 habe ich meinen Bachelor in Kunstgeschichte abgeschlossen, damit darf ich mich Kunsthistorikerin nennen. Ich darf Katalogtexte schreiben, Führungen über kanonische Künstler-Bros anbieten, und mich für halbes Gehalt als Museumsvolontärin ausbeuten lassen. Oh nein, das darf ich tatsächlich nicht – dazu bin ich erst mit einem Masterabschluss qualifiziert. Kunst aber kritisch in den Blick nehmen? Jetzt mach mal halblang, Fräulein. Während ein Abschluss oder ein Zeugnis eine handfeste Qualifizierung ist, ist Erfahrung doch ein schwammiges Konzept. Was genau meint Erfahrung?
Das Bestehen auf Erfahrung ist unter anderem mit der Vorstellung verbunden, dass sich mit zunehmendem Alter auch ein zunehmend objektiver Blick schärfen würde. Objektiv sieht die Welt aber niemand. Idealerweise hilft Lebenserfahrung damit, die Grenzen des eigenen Verständnisses zu reflektieren. In seinen Memoiren schreibt der Galerist Rudolf Zwirner (Papa von Nepo-Baby und Mega-Galerist David Zwirner), dass er seinen Vermittlungsrahmen bei Pop Art begrenzt hatte, weil er nicht mehr den Bezug zu neuerer Kunst habe. Nicht, weil er sie nicht gut finde oder weil sie ihm zu x oder zu y sei, sondern weil er die Grenzen seines eigenen Einschätzungvermögens einsieht. So eine Einstellung respektiere ich. Ein hohes Alter per se garantiert aber nicht die Erkenntnis der eigenen Subjektivität. Oft bildet sich statt Offenheit für das Neue ein Autoritätsanspruch. Das sieht man an den sich häufenden Essays alter weißer Männer, die sich zu der Kunst ihrer Jugend zurücksehnen wo früher doch alles besser war (Hi, Dean Kissick!).
Gilda Williams empfiehlt Kunstkritiker*innen in ihrem Buch „How to Write About Contemporary Art“, sich insbesondere mit gleichaltrigen Positionen sowie denen eine Generation jünger und älter zu befassen, weil man gerade auch von der historischen Nähe zueinander profitieren kann. Ich habe meinen Blog The Gen Z Art Critic getauft, weil ich über Kunst aus meiner generationsbedingten Perspektive schreibe: Und diese ist nun mal Gen Z. Ich werde Konzeptkunst der 60er nie so sehen können wie jemand, der damals dabei war. Genauso wird eine siebzigjährige Person nicht denselben Zugang zu einer mit Memes arbeitenden Millennial-Künstlerin haben, wie ich. Und das ist auch okay so. Es wäre doch langweilig, wenn wir alle dasselbe sehen und denken würden. Kunstkritik wird doch gerade dann spannend, wenn man sie nicht als eine anonyme gebieterische Stimme aus dem Off versteht, sondern als viele Stimmen, die – um Kamala Harris zu zitieren – im Kontext von allem, was sie umgibt und was vor ihnen da war, existieren.
Ich verstehe Kunstkritik auch als Zeitkapsel. Welche Erwartungen und Ansprüche haben Menschen unterschiedlicher Generationen an Kunst ihrer Zeit? Wie sehen sie die Kunst der Vergangenheit? Und wie kann man diese Standpunkte und Sehgewohnheiten für andere nachvollziehbar argumentieren? Diese generationsbedingte Lebenserfahrung hinzuzuziehen bei der Betrachtung von Kunst scheint mir jedenfalls immer die Auseinandersetzung wert.