Startseite

Zwei Hühner stehen vor einer Zeichnung, die sie zeigt und fragen sich nach dem Sinn der Kunst

L’art pour what? Warum Kunst sinnlos und unabdingbar ist

Zeitgenössische Kunst kommt so wahnsinnig exklusiv daher. Wozu das Ganze also? Wozu die Kunst? Brauchen wir sie in unserer Gesellschaft überhaupt?

Ich habe sehr, sehr lange studiert: Kunstwissenschaft. Mein ständiger Begleiter in all den Jahren bis heute war und ist der Zweifel. Zweifel über die Sinnhaftigkeit dieser Ausbildung, dieses Fachgebietes und letztendlich auch der Kunst selbst. Viele Kommiliton*innen haben deswegen ihr Studium abgebrochen. Ich blieb jedoch dabei.
Je länger ich studiert habe, desto weiter habe ich mich von der Bildenden Kunst entfernt. Ich gehe bis heute lieber ins Kino, ins Naturkundemuseum, widme mich auf Vernissagen mehr meinen Freund*innen als mich mit der Kunst auseinanderzusetzen. Ich bin der Bildenden (vor allem der zeitgenössischen) Kunst überdrüssig geworden, die überall, wo sie einem begegnet, ob in Ausstellungen, Museen oder Unterhaltungen, so wahnsinnig exklusiv daher kommt. Wozu ist sie überhaupt gut?

Diskussionsrunde mit Menschen im Werkstattpalast über den Sinn der Kunst
Talk zum Thema „Wozu die Kunst“ im WERKstattPALAST 2022

Ich will mir in Erinnerung rufen, warum wir als Gesellschaft Kunst brauchen. Inspiriert hat mich dazu ein Talk mit dem Titel „Wozu die Kunst?“, der im August 2022 im Rahmen des WERKstattPALASTes im Karlsruher Rheinhafen stattfand. Die Gäste waren die Künstlerin Judith Milz, die Kunstkritikerin und Journalistin Dorothee Baer-Bogenschütz sowie der Kurator und Musiker Jan Kage, moderiert hat die Künstlerin und Kuratorin Lisa Bergmann.

Jede Zeit verdient(e) ihre Kunst und so ist die Frage “Wozu die Kunst?” ein schier endloses Thema.
Seit den Höhlenmalereien vor ca. 45.000 Jahren, den bisher ältesten Malerein der Menschheit, übernahm Kunst verschiedene Funktionen. Über viele Jahrhunderte hinweg hatte die westliche Bildende Kunst praktische Zwecke. Sie war an kirchliche oder weltliche Auftraggeber wie Herrscher oder das reiche Bürgertum gebunden. Bis heute gibt es Auftragskunst, die jedoch stets sehr argwöhnisch betrachtet wird, da ihr der Vorwurf der Unfreiheit anheftet. Im 19. Jahrhundert begann sich die Bildende Kunst von Auftraggebern zu lösen. Die Redewendung „l’art pour l’art“ (sinngemäß: „Kunst um der Kunst willen“) aus dieser Zeit verdeutlicht die Emanzipation der Kunst von ihrer Zweckgebundenheit. Dieses Kunstverständnis hält bis heute an. Studierende an Kunstakademien nehmen die Vorstellung der Autonomie der Kunst wie Muttermilch auf. 
Fragt man Personen, die tagtäglich mit Kunst zu tun haben, was für sie Kunst sei, so bekommt man z.B. zu hören: „Kunst ist mein ganzes Leben“ (Dorothee Bear-Bogenschütz) oder „Kunst ist das Leben an sich“ (Jan Kage). Diese Aussagen entsprechen einem romantischen Ideal, das Kunst als eine intrinsische (innere) Notwendigkeit begreift. Für Außenstehende, die mit Kunst nichts am Hut haben, ist Kunst jedoch nicht existenziell. 

Durch die documenta fifteen im letzten Jahr ist eine Aufgabe der zeitgenössischen Kunst besonders deutlich geworden: die Auseinandersetzung mit politischen Themen. Kunst, die aktivistisch agiert, soll Strukturen in der Gesellschaft thematisieren und überdenken. Themen wie politische Unterdrückung, Rassismus, der Klimawandel, Feminismus, Queerness etc. finden sich in der zeitgenössischen Kunst wieder. „Künstler*innen funktionieren wie Durchlauferhitzer“ (Judith Milz) in ihrer Umgebung und der Gesellschaft. Sie machen durch ihre künstlerische Arbeit Missstände, Probleme oder Tabus sichtbar und stellen Querverweise her, die mitunter im Verborgenen liegen. Laut Jan Kage ist Kunst das gesellschaftliche Medium schlechthin, in dem alles verhandelt werden kann. Damit steht die Kunst der Wissenschaft näher als man denkt. Sowohl die Wissenschaft als auch die Kunst behandeln Phänomene der Umwelt. Es gibt jedoch einen Unterschied zwischen beiden: Die Wissenschaft muss beweisen, die Kunst kann behaupten, so Kage. Dies ist eine unglaubliche Freiheit der Kunst. 

Kunst kann Hoffnung, Zuversicht und Visionen formulieren (Jan Kage), gerade in der heutigen Zeit. In seinem Buch „Kann ich das auch? 50 Fragen an die Kunst“ beschreibt Kolja Reichert sehr eindrücklich, was Kunst leisten kann: Sie kann das Leben von Angst befreien, Neugierde gegenüber Fremden wecken, Freiheit, Großzügigkeit und Souveränität schenken. Und da Kunstwerke Zeiten überdauern, können sie zum Maß unseres Lebens werden, indem sie uns in der Geschichte verorten und uns in Beziehung zur Gegenwart oder früheren Zeiten setzen. Kunst schult unsere Wahrnehmung der Umgebung und schärft die Sinne. Die Beschäftigung mit Kunst kann den Unsinn menschlichen Tuns aufzeigen und uns helfen, ihn zu erkennen, zu ertragen oder zu verändern. „Sie [die Kunst] gibt uns einen Orientierungssinn, der es erlaubt, den Sinn in unserem Leben vom Unsinn zu unterscheiden.“ Letztendlich antwortet Reichert auf die Frage, wozu Kunst gut sei: „Wozu ist nur irgendetwas gut? Kunst hält diese Frage lebendig.“
Kunst ist also durchaus auch etwas Persönliches. Und die Frage “Wozu die Kunst?” kann umgemünzt werden auf “Wozu brauchst du die Kunst?”.

Sie ist komplex, die Kunst. Sie ist unabdingbar für die Gesellschaft, selbst wenn man sich nicht mit ihr auseinandersetzt. Sie ist da, wirkt im Verborgenen und überdauert uns. Es lohnt sich also durchaus, ab und zu mal eine Ausstellung zu besuchen und die Kunst (wieder) schätzen zu lernen. 

Und ich als studierte Kunstwissenschaftlerin muss mich in Bezug auf die Kunst stets erinnern: „Don’t hate the player, hate the game“ (Jan Kage). Es sind nicht die Kunst oder die Künstler*innen an sich, die mich nerven, sondern das Kunstsystem.

Mehr Informationen und das komplette Programm des WERKstattPALASTES gibt es HIER.

Das Buch „Kann ich das auch? 50. Fragen an die Kunst“ von Kolja Reichert ist im Klett-Cotta Verlag erschienen und ein heißer Tipp für alle, die Kunst und das System dahinter besser verstehen wollen.