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Verlust erzählen: Trendthema Trauer in der Kunst

Wie werden Verlust und Trauer in der zeitgenössischen Kunst behandelt? Gleich mehrere Berliner Kunstinstitutionen und Galerien widmen sich aktuell diesem Thema. Unsere Autorin Marie Griesheimer hat die Ausstellungen besucht und fasst einige künstlerische Arbeiten ins Auge. Lesedauer: 5 min

Im Laufe der letzten fünf Jahre sind mir zunehmend künstlerische Auseinandersetzungen begegnet, die sich vielfältig mit denselben thematischen Zusammenhängen auseinandersetzen: Dem Verlust, dem Abschied, der Melancholie, der Trauer und dem Trost. 
Diesem persönlichen Eindruck bin ich etwas systematischer nachgegangen, um erstaunt festzustellen, dass sich diesen Themen aktuell gleich mehrere Berliner Museen, Ausstellungsräume und Galerien verschrieben haben. Bereits eine oberflächliche Internetrecherche der Stichworte „grief exhibition berlin“ reicht aus, um aktuelle Ausstellungen im KINDL, der Körnerpark Galerie, dem Humboldt Forum sowie die kürzlich beendete Einzelausstellung Mourning Opulence bei Peres Projects vorgeschlagen zu bekommen. Obwohl sich die Auswahl der gezeigten Kunstwerke – ebenso wie ihre Kuration – eindeutig voneinander unterscheiden, kreisen sie alle um die Frage nach Form, Ausdruck, geschichtlicher Einordnung, aber auch Bewältigung und individueller Bedeutung von Verlust, Trauer und letztlich Trost.

“There is no real way to deal with everything we lose”, schrieb die kürzlich verstorbene US-amerikanische Schriftstellerin Joan Didion in ihrer Essaysammlung Where I Come From. So gibt es nicht die eine, wahrhaftige Art und Weise, mit Verlust umzugehen. Auf einen Verlust folgt üblicherweise das Gefühl der Trauer – doch existiert keine „Üblichkeit“ oder gar eine Ordnung, wenn es um Trauer und Verlust geht. So verschieden jede einzelne Verlusterfahrung von der anderen ist, so unterschiedlich verlaufen auch die Trauerprozesse. Jede*r trauert für sich allein. Zugleich betrifft sie uns alle: Verlust und Trauer sind unumgängliche Erfahrungen, die früher oder später in jedes Leben dringen. Das eint sie und verleiht ihnen einen universellen Status. Jede*r hat eine Ahnung davon, was es bedeutet, jemanden zu verlieren. Über alle historischen und politischen Zusammenhänge hinweg stiften Verlusterfahrungen damit eine dürftige Form von Gemeinschaft.  

Die Installation Work of Mourning der Künstlerin Nadine Byrne und weiterer Künstler*innen greift, neben vielen anderen, dieses Motiv auf. Zu Beginn des Films werden die ähnlich gekleideten Künstler*innen dabei gefilmt, wie sie sich nacheinander einen nicht enden wollenden, dicken Faden durch ein Loch in ihren Roben ziehen. Obwohl die Künstler*innen einige Schritte voneinander entfernt stehen, verbindet sie, durch den Faden visualisiert, etwas, vielleicht ein intimes Wissen: Sie alle haben kurz zuvor ihre Mutter verloren. 

Eine besondere Bedeutung kommt in Momenten der Trauer und des Verlusts Ritualen zu, die durch ihre Wiederholungen einen gewissen Halt versprechen. Trauerrituale unterscheiden sich individuell und kollektiv, zwischen Tieren und Menschen, in der Vergangenheit und in der Gegenwart. Nur die Tatsache ihrer bloßen Existenz spricht für sich. Wenn ein Verlust ins Leben einbricht, dann muss ein Umgang mit ihm gefunden werden. Und sei dies auch nur seine Verdrängung. 

Was bedeutet es, wenn etwas zwischen den Generationen aufgrund seiner Verdrängung verloren geht? Wenn etwas nicht zur Sprache kommen kann oder darf? Die ebenfalls in der Körnerpark Galerie gezeigte Videoinstallation Peel Mazen Peel von Mazen Khaddaj scheint sich an diesem Thema abzuarbeiten: Khaddaj filmt sich, wie er nackt in einem kargen Raum Kartoffeln schält. Je schneller er schält, desto mehr der eigenen Haut schneidet er mitsamt der Kartoffelschale ab, was wiederum durch viele kleine Filmschnitte wiederholt wird. Den Ausgangspunkt für diese Arbeit markiert der Verlust des Vaters Khaddajs, welcher zu Lebzeiten nie von der Homosexualität seines Sohnes erfahren durfte. Die Zerlegung des (Film-)Körpers spiegelt die Beziehungserfahrung zwischen den Generationen wider und verbindet sich zugleich mit der Bedeutung von queer mourning.

Die Vielseitigkeit von Trauerprozessen und der künstlerischen Beschäftigung mit denselben bewegt sich im Spannungsfeld zwischen seit Jahrtausenden überlieferten Ritualen und Zukunftsvisionen. Letztere werden in Larissa Sansours und Søren Linds Installation As If No Misfortune Had Occurred in the Night im KINDL aufgegriffen. Die Installation steht im Dialog mit unzähligen kunsthistorischen und religiösen Bezügen, wie den Kindertotenliedern des Komponisten Gustav Mahler, palästinensischen Volksliedern, aber auch dem Exodus, dem Auszug der Israeliten aus Ägypten. Sie verbindet die verschiedenen Elemente von Trauerprozessen und formt daraus eine kollektive Erzählweise. Ein Teil der Installation besteht aus einem rund zwanzigminütigen Video, in welchem Science Fiction-Elemente zur Vorstellung einer aus der Perspektive der Künstler*innen gerechteren – und dies bedeutet in der Utopie vielleicht auch einer weniger traurigen – Welt aufgegriffen werden. 
Womöglich ließe sich behaupten, dass sich die Überwindung eines konkreten Verlustes, der allzu oft die Integration desselben in das Leben bedeutet, nur retrospektiv feststellen lässt. Erst die Feststellung über die zukünftige Abwesenheit von Trauer im Denken, Erleben und Sprechen zeigt, dass diese im Heilen begriffen ist – und dass diese dabei ihr eigenes Ende hervorgebracht hat. 

Eingang des KINDL Museums in Berlin

Larissa Sansours und Søren Linds Installation „As If No Misfortune Had Occurred in the Night“ ist noch bis zum 2. Juli 2023 im KINDL Berlin zu sehen. © Raimond Spekking / CC BY-SA 4.0 (via Wikimedia Commons)

Wenn Trauer auch Gemeinschaft stiftet, bezieht sich dies zunächst auf eine geteilte Erfahrung, in diesem Fall diejenige des Verlusts. Doch sind Gemeinschaften in ihren unendlichen Ausdifferenzierungen vielfältig, unterschiedlich und voller (scheinbarer) Widersprüche. Die Rolle derjenigen, die gekappte Bande wieder aufnehmen und flicken, ist (kunst-)historisch feminin assoziiert. Es waren zumeist Frauen, welche die emotionale Infrastruktur einer Gemeinschaft zusammenhielten – und halten. Diesem Motiv widmet sich die Arbeit Stitches von Paloma Proudfoot, die eine Nadel und Faden in den Händen haltende Frau zeigt, aus glasiertem Keramik und einem Seil. Für die/den Betrachter*in bleibt unklar, ob die Figur eine Wunde an sich selbst oder an ihrem Oberteil zusammennäht. 

Bei meinen Besuchen der aktuellen Ausstellungen in Berlin schien es einen Elefanten im Raum zu geben: Covid-19. Die Pandemie wird zwar an der ein oder anderen Stelle erwähnt, doch eher in Form von statistischen Zahlen als in Narrativen. Vielleicht ist genau diese Sprach- und Erzähllosigkeit der Ausdruck eines noch frischen und global geteilten Verlusts. Der Zwang zur Zahl suggeriert womöglich nachträglich die Illusion der Kontrolle über die Verluste. Trost spendet er sicher nicht. 

Die Covid-19 Pandemie war zwar ein global erlebtes Ereignis, doch wurde mit ihr auch umso deutlicher, welche Gemeinschaften historisch bedingt vulnerabler sind als andere. Wird von Verlust und Trauer erzählt, so muss auch über Gemeinschaft gesprochen werden. Denn Teil einer Gemeinschaft zu sein, macht vulnerabel. Es entstehen Bindungen, die immer das Risiko in sich tragen, verloren zu gehen. Diese Abhängigkeit von anderen und von Gemeinschaft(en), wurde, beschleunigt durch die Pandemie, umso sichtbarer. 

Wie also Verlust (weiter-)erzählen?

Larissa Sansours und Søren Linds Installation „As If No Misfortune Had Occurred in the Night“ ist noch bis zum 2. Juli 2023 im KINDL Berlin zu sehen.