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Videoscreen im Museum mit Untertitel Can You keep a Secret

Über Kunst sprechen, wenn man sie nicht fühlt

Weshalb fällt es uns so schwer, unsere Meinung zu einem Kunstwerk zu äußern? Und was hat die eigene soziale Klasse mit der Kunstvermittlung zu tun?

Wenn wir über Musik sprechen, ist es vollkommen normal, die eigene Meinung zu einem Lied auszudrücken: „Mir sind die Melodien zu unharmonisch und der Rhythmus zu hektisch, ich finde den Track echt anstrengend.“ Würden wir allerdings einen Song so kommentieren, wie wir über ein Gemälde sprechen, würde unsere Kritik vielmehr so ausfallen: „Ich kenne die*den Künstler*in und ihre*seine vorherigen Alben nicht gut, darum fällt es mir schwer zu sagen, ob mir der Song gefällt oder nicht – zumal ich mich kaum mit der Epoche des Breakbeat befasst habe. Ich bin nicht die richtige Person, um zu beurteilen, ob mich das Lied zum Tanzen bringt oder nicht.“ 
Im Vergleich zu all den Bereichen, in denen es auf den individuellen Geschmack ankommt, fällt es uns in der bildenden Kunst oft schwer, unsere eigene Meinung zu äußern. Woran liegt das?

Versuchen wir es mal mit der Wissenschaft: Der französische Soziologe Pierre Bourdieu hatte einst in einer Studie über europäische Museen und deren Besucher*innen unter dem Titel „L’amour de l’art“ („Die Liebe zur Kunst“) gezeigt, dass Bildungsniveau und Kunstinterpretation eng verwoben sind. Mit seiner Arbeit wies er nicht nur auf Klassenunterschiede, sondern im Besonderen auf eine Feindseligkeit der elitären Ausstellungskultur gegenüber einer Vermittlungsarbeit hin, während weniger privilegierte Klassen in ihrem Unwissen in der Kunst allein gelassen werden. 

Diese Ablehnung äußert sich auf vielen Ebenen, anhand vieler subtiler Codes. Beispielsweise in der sprachlichen Überhöhung komplizierter Ausstellungstexte, die Besucher*innen vielmehr die eigenen Wissenslücken vorhalten, als dass sie diese füllen möchten. Und wer kennt sie nicht, die Floskeln „bedeutendste Künstlerin der Nachkriegszeit“, „große Meisterwerke“, mit der einem Werk eine Absolutheit zugesprochen wird, vor der die*der Betrachter*in gefälligst zu bestehen hat.

Ich komme aus einem akademischen Umfeld, als Kind hat mich mein Vater oft in Ausstellungen mitgenommen. Ich spreche Deutsch, Englisch und Französisch fließend (in der Kunstwelt, in der es gängig ist, Texte mit französischen Wörtern aufzublasen, um ihnen das gewisse Je Ne Sais Quoi zu geben, ein klarer Vorteil), wurde zum Klavierunterricht geschickt, sang als Kind jahrelang in den Opern eines Theaterhauses, habe an einer anerkannten Kunsthochschule Grafikdesign mit Kunstwissenschaft im Nebenfach studiert und lese am liebsten Sachbücher. Nach Bourdieu besitze ich also einiges an kulturellem Kapital. Ein Privileg, das nicht auf Intelligenz zurückzuführen ist. Sondern auf die soziale Klasse und die damit einhergehende kulturelle Erziehung, in die ich hineingeboren wurde.

Mein kulturelles Kapital sollte eigentlich mehr als genug sein, um mich auf den öffentlichen Feldern der Kunst zu bewegen und mir eine eigene Meinung zuzutrauen. Könnte man meinen. Stattdessen stehe ich, wie viele Galerie- und Museumsbesucher*innen, voller Selbstzweifel vor Kunstwerken und frage mich, warum sich mir das Meisterhafte einfach nicht erschließen will. Immerhin gibt es manchmal diejenigen, die ihrem Frust Luft verschaffen, indem sie äußern: „Das kann mein vierjähriger Sohn auch!“ So selbstgenügsam ich den Satz finde, die Kritik darin kann ich nachvollziehen. Schließlich braucht es oft Kontext, zum Beispiel wann oder unter welchen Bedingungen ein Werk entstanden ist, um zu verstehen, weshalb es so outstanding ist – und wenn mir das niemand zeigt, ist es oft kaum möglich, das selber zu entdecken.

Frau in einem Museum steht vor schwarzem Gemälde
"Und das ist jetzt Kunst?" Museumsbesucher*innen werden in ihrem Unwissen oft alleine gelassen.

Aufgrund gesellschaftlicher Leitbilder sind viele darauf trainiert, Kunst mit technischem und handwerklichem Geschick gleichzusetzen, obwohl das nur bedingt sinnvoll ist. Das wird besonders deutlich, wenn diese Betrachtungsweise auf zeitgenössische Kunst trifft: Dort gelten nicht nur komplizierte Maßstäbe, hinzu kommt auch noch, dass der Qualitätsstempel fehlt, welcher einem Werk allein durch seine Bedeutung in der Kunstgeschichte erteilt wird. Die heute entstehende Kunst schwebt in einem offenen Raum: Es könnte ein Meisterwerk sein, das eine neue Epoche einläutet. Oder es ist einfach nur Ramsch. Das wird sich erst rückblickend zeigen, jetzt weiß das noch niemand so genau.

Angesichts der Verunsicherung der Betrachter*innen bleibt ihnen also nichts anderes übrig, als sich auf das Beurteilungsvermögen des Museums, der Kurator*innen, der Galerien, der Auktionshäuser zu verlassen, die ihrer Heiligenverehrung nachgehen, ohne diese für andere plausibel zu machen. Die Auswahl, Sprache, Darstellung und der Markt des Kunstsystems sind komplex gehalten. Kunst nährt sich von dem Mythos, die Welt zu verändern – und entsprechend ernüchternd ist ihre reale Erfahrung an den dafür geschaffenen Orten. Nicht zuletzt, weil sie als gesellschaftliches Exklusionsinstrument benutzt wird: Die Ausgeschlossenen bekommen im Museum oder in der Galerie signalisiert, dass sie am falschen Ort gelandet sind. Kunst als Klassendistinktion. Daran hat sich seit Bourdieus Studie in den Sechzigern nichts geändert. 

Der frustrierten Person, die das Meisterwerk mit dem Gekritzel ihres Sohnes gleichsetzt, bin ich offen gesagt für eines dankbar: Indem sie ihr Unverständnis äußert, überwindet sie die Passivität, die Museums- und Galeriebesucher*innen antrainiert wird. Sie durchbricht die verkrampfte Stimmung in den Kathedralen der Kunst. 

Das kann ich von mir nicht behaupten: Kürzlich sah ich eine Performance, deren Motiv und thematischer Überbau, falls es überhaupt einen gab, sich mir in keinster Weise erschlossen hat. Nebulöse Satzfetzen, begleitet von einer wiederholten monotonen Note eines gezupften Instruments. Ich ertappte mich dabei, wie ich angestrengt versuchte, aus dem, was ich sah und hörte, neue, persönliche Assoziationen herzustellen, in der Hoffnung, irgendeine Emotionen zu verspüren – manche sagen ja, ein Kunstwerk ist das, was die*der Betrachter*in selbst darin sieht. In solchen Momenten stelle ich mir gerne vor, dass wir Besucher*innen Teil eines Sketches oder eines institutionskritischen Versuchs seien, innerhalb dessen die Künstler*innen ausprobieren, wie weit sie eine Arbeit ad absurdum treiben können. Diese Vorstellung liebe ich.

Als die Performance nach einer halben Stunde ihr Ende nahm, klatschte das andächtige Publikum. Ich auch. Alle wandten sich erneut ihrem Sekt und ihren pausierten Gesprächen zu, und das soeben Gesehene wurde nicht mehr erwähnt. Tagelang überlegte ich, welcher Code mir gefehlt hatte, um das Dargebotene zu entschlüsseln. Ich fragte mich, wie die anderen klatschenden Besucher*innen, die im Gegensatz zu mir im Großteil sogar fachfremd gewesen waren, an ihn herangekommen waren. Erst Wochen später, als ich mit einer Freundin, die auch bei der Performance gewesen war, beim Frühstück saß, traute ich mich zu fragen, wie sie diese empfunden hatte. Nach einem Moment der unsicheren Stille, wohl ein kurzes, gegenseitiges Versichern, dass wir uns in ihrer WG-Küche in einem geschützten Raum befanden, brachen wir in erleichtertes Gekicher aus.

Ich frage mich: Ab wann ist man die richtige Person, um eine legitime Meinung über ein Kunstwerk, eine Performance, ein Gedicht haben zu können? Welchen Lebenslauf, welche Ausbildung, welchen Nachnamen brauche ich, um mir ein eigenes Urteil über ein Kunstwerk zuzutrauen?

Was ich mir für 2023 gerne vornehmen möchte: Zugeben, wenn ich ein Werk nicht gut finde (in einem höflichen Rahmen, das versteht sich von selbst). Und offen kundtun, wenn sich mir ein Kunstwerk nicht erschließt. Versuchen, von einer passiven zu einer aktiven Betrachterin zu werden und das genügsame „dann hast du es einfach nicht verstanden“ nicht einfach so hinzunehmen. Es wird nicht leicht, sich offen zu der Seite zu bekennen, von der sich der Kunst-Kanon so unbedingt abheben möchte. Aber ich bin mir sicher, dass ich mit meinen Fragen nicht die einzige im Raum sein werde. Und das befreite Kichern in der WG-Küche war nun mal zu schön.

Weiß, Susanne (2013) Das Kunstmuseum als Distinktionsstätte sozialer Ungleichheit. Tabula Rasa Magazin

Rehse-Knauf, Luca (2022) Kulturelles Kapital. Die Macht gesellschaftlicher Codes. Deutschlandfunk