Startseite

Schriftzug "Dream Big" auf dunklem Untergrund

Verlorene Schäfchen

Wenn du erfolgreich sein willst, musst du dich selbst vermarkten. Das gilt für Künstler*innen wie für alle Selbstständigen. Coachings sollen dabei helfen, die Szene boomt. Unsere Autorin hat sich einen Tag in die Coaching-Hölle gewagt. Lesedauer: 7 min

Seit einigen Monaten arbeite ich als freie Lektorin für einen kleinen Verlag. Kürzlich legte meine Chefin Sandra mir einen Coachingtag für Unternehmer*innen und Selbstständige mit der Coachin Anja Hoffman ans Herz. Mehrfach hatte Sandra mich bereits versucht zu überzeugen. Ich habe immer viel rumgedruckst, bis sie sagt: „So und jetzt meldest du dich da einfach mal direkt an, dann haste schonmal deinen Platz sicher.“ Da ich neu in der Branche und generell überfordert mit dem Einstieg in die Berufswelt bin, lasse ich mich bequatschen. Zunächst versuche ich noch höflich auszuweichen, doch die treue Schäferin hat mich blitzschnell umzingelt wie ein verlorengegangenes Schaf: „Und das machst du einfach direkt jetzt, wo ich noch am Telefon bin, sonst findest du wieder ne Ausrede, warum es doch nicht geht. Du musst heute in deine Zukunft investieren, Nelia!“ Ich: „Okay“, drücke das Handy in meiner Hand ein bisschen zu fest, verdrehe die Augen und trage meine Daten in das Onlineformular ein. 

Zu Beginn des Coachings stellt sich die 58-jährige Anja der Gruppe von zehn Teilnehmer*innen vor und erzählt, wie sie vor zwanzig Jahren zum Coaching gekommen ist. Anja trägt enge Leggings mit goldenen Reißverschlüssen und ein körperbetontes Oberteil mit V-Ausschnitt, das von einem breiten Gürtel in der Hose gehalten wird. Ihre Füße stecken in beigefarbenen Fellstiefeln, die Haare sind goldblond gefärbt und gelockt, die Lippen knallrot. Sie erzählt von ihrem achtjährigen Enkel Max, dem Schauspieler, der immer genau das sagt, was er denkt: „Arschloch, Wixer.“ Seine Augen seien rein, weil er keine Emotionen in sich anstaue. „Die Augen sind das Fenster zur Seele!“ Mit ernstem Blick schaut sie in die Reihen, neben mir zückt Ingrid (62) ihren Notizblock und schreibt eifrig mit dem Kopf ruckend mit. Sie sieht dabei ungefähr wie ein Huhn aus, das den Brotkrumen nicht zu fassen bekommt. Als nächstes schauen wir uns die Nahaufnahmen von unseren Gesichtshälften an, die vor Beginn des Coachings gemacht wurden. „Im linken Auge sieht man Emotion und Kreativität, im rechten Auge sieht man Willenskraft und Rationalität, links ist also weiblich und rechts ist männlich…“, erklärt sie uns. Alles klar, Anja. Weiter geht’s mit einer Vorstellungsrunde. Enkel Max spielt auch hier eine wichtige Rolle: Egal ob es gerade zum Thema passt oder nicht, unterbricht Anja die sich Vorstellenden mit einer kleineren oder größeren Max-Anekdote. „Mach es so wie Max!“, schreibe ich mir auf. 

Dann sind Interviews dran: Die Befragten setzen sich auf einen Stuhl im Halbkreis und werden von Anja zu ihrem Beziehungs- und Berufsleben befragt. Ingrid kommt aus dem Schwarzwald, wegen der Corona-Maßnahmen ist sie nach Schweden ausgewandert, wo sie eine Ausbildung zur Make-up Artistin gemacht hat. Ihr Rouge und ihr Lippenstift beißen sich leider trotzdem mit der Farbe von ihrem Jackett. Ingrid hat sich vor ein paar Jahren von ihrem Mann getrennt und möchte jetzt ihre Karriere mit Vitalwert-Messgeräten weiter ausbauen. Sie hat auch so ein Ding in ihrem Ausschnitt klemmen, es fällt aber leider alle fünf Minuten runter. Anja rät ihr, sie solle sich auf einer Dating-Plattform anmelden, dort fände sie einen gemütlichen Mann mit Halbglatze und Bauch, der gern tanzt – das sei genau das richtige für Ingrid. Ingrid versteht: Sie ist einfach zu alt für irgendeine Karriere. Julius (32) ist schmächtig und rockt die klassische Kombo Bürstenhaarschnitt und Hemd-Pullover-Jeans. Er studiert seit 24 Semestern Ingenieurswesen im Master, ist frisch getrennt. Sein Studium hat er sich durch Papa und etwas Tennistraining finanziert. Anja sagt bei der Video-Analyse seines Gesichts, er habe etwas Unmännliches an sich. Ihr Tipp: Geh zu Roger Federer und Rafael Nadal. „Ruf bei denen im Team an und versuch’ da irgendwie reinzukommen.“ Sie hat ein Chart dabei, das in „Marketer“, „Manager“ und „Visionär“ aufgeteilt ist. Sie schaut Julius kurz an und sagt dann: „Du bist Visionär. 100% bist du Visionär“. Julius schaut fragend zurück. Anja sagt: „Du bist halt gerade in einer Schaffenspause.“ 

Spätestens ab dem Punkt geht mir Anja Hoffman ein bisschen auf die Nerven. Ich würde mich eigentlich als eher ausgeglichen bezeichnen, aber wenn ich das Gefühl bekomme, verarscht zu werden, werde ich sauer. Vielleicht sollte ich mich dann doch an den Rat von Anja halten und es wie der kleine Max machen: „Arschloch, Wixer!“ Aber ich bin nicht Max und ich möchte mich auch ungern wie ein Achtjähriger benehmen. Ich frage mich, wie sie das Coaching-Business eigentlich so lange am Laufen gehalten hat. Alle Teilnehmenden sind über ihre sogenannten Mentor*innen oder andere Coaches vermittelt worden, die sich allesamt von Anja Hoffman haben ausbilden lassen und überzeugt sind, dass das jetzt genau das Richtige für uns sei. Es funktioniert eigentlich genau wie in der katholischen Kirche: Anja Hoffman drückt das Geld aus den Verzweifelten und Gescheiterten wie aus alten Zahnpastatuben. Anjas Mittelsmänner und -frauen bekommen für die Vermittlung eine Provision zugesteckt. Nur wissen das die Teilnehmenden nicht. Aber glauben die wenigstens an den Scheiß, den sie da erzählt? Meine Chefin Sandra tut es auf jeden Fall, sie lässt sich schon seit zehn Jahren von Anja coachen. 10.000 € hier, 15.000 € da. Wahrscheinlich greift das klassische „Betrüger*innen-Phänomen“: Wenn man erst einmal richtig, richtig viel Geld und Vertrauen in jemanden oder etwas investiert hat, ist es irgendwann unmöglich sich einzugestehen, dass man beides auch genauso gut zum Fenster hätte rauswerfen können. Anja und ihre Coaching-Kolleg*innen haben jedenfalls eine Marktlücke gefunden, die darauf beruht, denen, die sich ungesehen fühlen, die einfach immer zu wenig Anerkennung und Liebe bekommen haben, das Ego zu streicheln und zu sagen: „Du bist ganz toll! Du bist halt einfach ein Visionär in der Schaffenspause.“ Und um ganz ehrlich zu sein, war das ein bisschen das, was ich mir von dem Coachingtag auch erhofft hatte: ein bisschen das Ego gestreichelt zu bekommen, oder endlich mein wahres berufliches Talent zu entdecken – da mir im Vorhinein ja auch gesagt wurde, Anja habe diese Fähigkeit, Menschen anzusehen, wo ihre wahren Talente liegen. Aber viel schlimmer als die Ego-Streichler-Masche ist, dass viele der Teilnehmenden am Coachingtag wirklich richtig verzweifelt scheinen und dringend einen guten Rat oder psychologische Unterstützung gebraucht hätten. 

So zum Beispiel Annette, eine ruhige und eher zurückhaltende Frau mittleren Alters. Man sieht ihr förmlich an, dass sie am Rande der Verzweiflung steht. Ihr Gesicht sieht eingefallen aus, sie hat tiefe, dunkle Augenringe und ihr Blick ist ausdruckslos. Bei ihrer Gesichtsanalyse meint Anja, sie habe etwas von einem Clown, ihre Augen würden lächeln, während ihre Mundwinkel herunterhängen würden. Sie ist wirklich nonchalant, das muss man ihr lassen. Annette erzählt von ihrem Beruf bei der Stadtverwaltung und dass sie ihren todkranken Mann allein zu Hause pflege. Sie schließt ihre Geschichte mit: „Ich kann nicht mehr“ und vergräbt das Gesicht in den Händen. Da grätscht Anja schon mit einer weiteren Weisheit rein. Sie legt ihr nahe, sie solle sich doch mal mit ihrem Mann über Sterbehilfe in der Schweiz informieren. Es wäre ja super, dass es solche Programme gäbe, wo Menschen eigenständig und in Würde entscheiden können, wann es mit ihnen zu Ende geht. Außerdem müsste Annette es irgendwie schaffen, aus diesem Haus rauszukommen und ihren Mann hinter sich zu lassen. 

Spätestens ab dem Punkt bin ich sicher: Anja Hoffman wäre in jedem Fall besser bei ihrem Enkel Max auf der Couch aufgehoben. Da könnte sie ihm tolle Geschichten erzählen – das würde wenigstens weniger Menschen in den Ohren und Portmonees schmerzen. So habe ich dann doch etwas aus dem Coachingtag mit Anja Hoffman gelernt: 300 € sind in jedem Fall besser in meine monatliche Miete oder ein schlechtes 3-Gänge-Menü mit eimerweise Rotwein investiert, als in eine Quacksalberin, die sich mit Weihrauch, Myrrhe und Gold für ihre Dreistigkeit huldigen lässt. Eine Frage geht mir nicht aus dem Kopf: Woher bekommt die Coaching-Szene plötzlich so einen Auftrieb und warum überlassen sich Menschen freiwillig solchen Halsabschneider*innen, als wären sie die neuen Prophet*innen? Ist es der Bedeutungsverlust der Kirche, gepaart mit steigender Politik- und Wissenschaftsverdrossenheit, die Menschen dazu bringt, Glaube, Geld und Gefolge in etwas anderes zu investieren? Oder ist es ein extremer Individualismus, der immer stärkere Selbstoptimierungszwänge und die verzweifelte Suche nach Bestätigung hervorruft? Guter Rat ist aber zum Glück nicht immer gleich teuer. Denn wenn man dringend jemanden braucht, der*die einem das Ego streichelt oder einem mit einer schweren Entscheidung hilft, bekommt man beides in einer guten Freundschaft kostenlos.

Gute und vor allem kostenfreie Coachings und Weiterbildungen für freischaffenden Künstler*innen und Kulturschaffende bieten z.B. KUBUZZ in Baden-Württemberg und das bildungswerk des bbk in Berlin. So entkommt ihr garantiert der fiesen Coachingfalle!