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Der Ausstellungsraum im Münchner Lenbachhaus ist leer, die Wände voller Bilder. Ich setze mich auf eine Bank und schaue das Bild vor mir an. Ehepaar von Maria Lassnig. Darauf sind zwei Menschen zu sehen, eine Frau und ein Mann, Stirn an Stirn, sie blickt hoch zu ihm, seine Augen sind nach unten gerichtet. Im ersten Moment bin ich mir sicher: Hier geht es um das Unglück der Ehe, die beiden fühlen sich schicksalhaft aneinander gebunden, gefesselt, unfrei. Sie leiden an sich. So wie man nur leiden kann, wenn man sich für die Ehe entscheidet, denke ich.

Doch dann schaue ich weiter hin und merke: Die beiden sehen eigentlich gar nicht unglücklich aus. Eher etwas besorgt. Aber innig. Vielleicht liegt es daran, dass ich mit dem Bild allein bin, aber es berührt mich. Es will etwas von mir, es fordert mich heraus, will ernst genommen werden. Es stellt mir Fragen: Was, wenn die beiden glücklich miteinander sind? Was, wenn das möglich wäre – eine Ehe, in der die Partner*innen sich respektieren, einander wählen und sich als die Menschen sehen, die sie sind?

Unser Alltag ist bestimmt von kleinen Prophezeiungen. Wenn ich die Kaffeemaschine anknipse, heizt sie auf, wenn ich die Milch in den Kühlschrank stelle, wird sie kalt, wenn ich den Fernseher anschalte, schalte ich meine Gefühle aus und so weiter. Diese Vorhersagen quellen aus unserer Erfahrung. Die Gewohnheit funktioniert dabei wie eine Stoßstange. Wenn man zu oft die gleichen Erfahrungen gemacht hat, stellt man sich darauf ein, dass es wieder so kommen wird. Man dellt ein. Oft schützt man sich so. Aber manchmal hindert es einen auch daran, die Realität zu sehen, weil sie von der eigenen Erfahrung so überlagert wird. Das kann man an Elefanten beobachten, die in Gefangenschaft aufwachsen. Wenn sie jung sind, werden sie an einen Pfahl gebunden, der in der Erde steckt. Sie reißen daran, versuchen sich zu befreien, schaffen es aber nicht. Sie wachsen heran und stehen ihr Leben lang festgebunden an diesem Pfahl, den sie inzwischen mit Leichtigkeit aus dem Boden reißen könnten. Aus Gewohnheit versuchen sie es nicht mehr.

Aber jetzt sitze ich vor Lassnigs Ehepaar und mein innerer Prophet steht mir im Weg. Mir dämmert, dass ich hier nichts zu sagen, nichts vorherzusehen habe. Dass Kunst so nicht funktioniert. Plötzlich liegt nicht mehr alles auf der Hand, und es ist so ähnlich wie es der Philosoph Hans Blumenberg über die Nachdenklichkeit schreibt: „Es bleibt nicht alles so selbstverständlich, wie es war.“

Wenn Musik auf den Index kommt, Bücher verboten werden, wenn Gemälde als verfemt gebrandmarkt werden, dann zahlen Menschen in die Idee ein, dass man Kunst nicht einfach konsumiert. In jedem Kunstwerk lauert eine Gefahr: dass nach der Auseinandersetzung nicht mehr alles so bleibt, wie es zuvor war. Wenn man nur lang genug vor einem Werk steht, wenn man versucht, sich dabei von sich selbst zu befreien und auf das andere einzulassen, dann ist das wie die Regenbogenstraße bei Mario Kart: Es ist nicht ganz klar wie einem geschieht, es geht schnell, es ist intensiv – und danach ist man an einem anderen Ort. Man wird möglicherweise ein*e andere*r, wenn man sich durch Kunst in die Welt anderer Menschen begibt. Weil man mit einer Perspektive auf die Dinge, die nicht die eigene ist, in Kontakt tritt.

Ästhetische Erfahrungen lassen sich nicht erzwingen. Genauso wenig wie jedes Werk dazu geeignet ist, ein Leben zu verändern. Aber vor allem dann, wenn sich eine Künstlerin getraut hat, unverstellt zu zeigen, was sie fühlt, was sie denkt, wie sie zur Welt steht, dann liegt ihre Wahrheit in dem Werk. Davon können Betrachter*innen durchaus überfallen werden. Wenn ich mich intensiv mit dem Bild auseinandersetze, akzeptiere ich das fremde Bewusstsein und eigne es mir an. Natürlich dringe ich als Betrachter nie ganz in das andere Bewusstsein, genauso wie ich meinem Gegenüber noch so intensiv zuhören-, aber doch nur Schlüsse aus dem Gesagten ziehen kann – den*die andere*n in Gänze zu verstehen ist zu einem gewissen Grad unmöglich. 

Die Autorin Siri Hustvedt schreibt in ihrem Essay Die Zukunft der Literatur über die transformative Kraft von literarischen Werken. Sie beschreibt eine ähnliche Erfahrung wie ich sie mit Lassnig gemacht habe. Man liest einen Roman – und ist danach nicht mehr der Mensch, der man davor war. Auch wenn es nur einen kleinen Teil des Bewusstseins verändert: Man wird ein*e andere*r. Aber diese Transformation hat eine Prämisse: Kunst sei wie Sex, schreibt Hustvedt, wenn man sich nicht entspannt, könne man es nicht genießen.

Es fordert Mut, sich so intensiv auf ein Kunstwerk, auf das Andere einzulassen. Wenn man es tut, entscheidet man sich für ein Leben auf einem Boden, der jederzeit wegsacken kann. Weil es keine absoluten Gewissheiten mehr gibt, wenn man die Perspektive von anderen Menschen so bedingungslos ernst nimmt. Aber wenn man sich darauf einlässt, gewinnt man mehr, als man an Sicherheit verliert.