Ich-Verlust im Schein des Smartphones
Liese Schmidt
Das kuratorische Konzept der Ausstellung Schattenbilder ist für die Institution Albertina ein schlüssiges, aber auch sehr glattes Konzept, glatt wie der stahl-silbern spiegelnde Fußboden, der eigens in den Ausstellungsräumen verlegt wurde. Trotzdem hat eine so sauber geplante Ausstellung für Menschen, die häufiger im Leben in klassischen Museen abhängen (mussten), etwas beruhigendes, im Sinne einer entspannenden Wiedererkennung. Die tritt für mich ein, wenn sich Inhalt, Medium und Stil in einer bekannten Art und Weise fügen, nämlich meist als Wiederholung kunsthistorischer Themen, in diesem Falle: im weitesten Sinne expressionistische Identitätskrisen.
Der 1977 in Rumänien geborene Maler Adrian Ghenie interpretiert in Schattenbilder eine Reihe von verschollenen Werken Egon Schieles mit Gegenwartsbezug neu. Der Maler, der für seine abstrahierten, doch figurativen Bilder à la Francis Bacon bekannt ist, verarbeitet häufig mit historischen Referenzen die immer noch unsere Jetztzeit prägenden Schrecken des 20. Jahrhunderts, insbesondere in Bezug auf die Diktatur in Rumänien. Aber auch die neueren Krisen einer digitalen Welt spielen in seinem Werk eine große Rolle.
So aktualisiert Ghenie auch in Schattenbilder die für die Wiener Moderne typische Abarbeitung am sich in der Moderne verändernden subjektiven Selbst, zwischen ständigem Nachrichtenkonsum und Brainrot auf Social Media. Auf seinen Bildern sind nur noch vage menschliche Körper zu sehen, vielmehr scheinen sie monströs zu sein: dünne Gliedmaßen, offenes Fleisch, Zähne in blutroten Mündern und durch breit gespachtelte Züge in Strahlen gebrochene Köpfe, die in Laptops und in Handys blicken, welche sie in ihren Klauen halten. Ein Körper lehnt an so einem Schreibtischstuhl, der jemandem gehören mag, der nachts auf Imageboards und in Foren seine verschiedenen Persönlichkeiten auslebt. Denn darum scheint es Ghenie hauptsächlich zu gehen: das Thema des Ich-Verlusts durch die technologische Erweiterung unseres Körpers darzustellen. Wir, die Zombie-Cyborgs, erkennen uns in Ghenies Bildern im Licht unserer Smartphones nicht wieder, weil sich unser Selbstbild in tausende von Selfies zersplittert hat.
Im Ausstellungstext wird das Ganze auch mit großen Wörtern wie „Nigredo“ beschrieben. „Nigredo“ beschreibt nach C.G. Jung einen bestimmten Punkt der Verzweiflung, bei dem das angenommene rationale Selbst in der Konfrontation mit den eigenen Schattenseiten und Trieben handlungsunfähig wird. Dieser Zustand sei ein totes Gleichgewicht, in dem rationale und moralische Entscheidungen erschwert werden. Während aber bei Jung dieser Zustand nur ein Übergangszustand ist, wird er hier zur universellen Empfindung einer lähmenden Überforderung angesichts der Tatsache, dass einem der eigene Körper nicht mehr zu gehören scheint. Welche Körper aber haben sich je wirklich selbst gehört? Das Schreckliche des Selbstverlusts ist immerhin nur schrecklich und monströs entstellend, wenn man sich einmal selbst gehört hat und als Subjekt anerkannt wurde. Ansonsten ist es der historische Alltag der meisten Menschen auf dieser Erde.
Wenn man sich bei Schiele vielleicht gelegentlich fragen sollte, ob durch das Ausstellen bestimmter weiblicher Akte Unrecht fortgeführt oder normalisiert wird, könnte man sich bei Ghenies Ausstellung gegebenenfalls fragen: Inwiefern bringt mich das Kunstwerk dazu, Gewalt in der Welt und durch Technologie wahrzunehmen, statt mich dieser Überforderung nur hinzugeben? Und: Über wessen Empfindung wird hier gesprochen?
„Die Kunst“ muss natürlich nicht immer Unrecht aufzeigen und darf auch mal ganz selbstbezogen sein, aber durch die selbst-obsessive Fokussierung auf ausschließlich die Symptome von Unrecht in einer digitalisierten Welt (Einsamkeit, gestörtes Selbstbild etc.), bleibt mir nach dem Ausstellungsbesuch vor allem ein kulturpessimistischer Nachgeschmack einer Fantasie, die daran scheitert, sich mehr vorzustellen, als die brutale Realität einer Gesellschaft, die versucht ein Selbstbild zusammenzusetzen, dessen Teile noch nie gepasst haben.

Adrian Ghenie Weltwehmut 1, 2024, 210 x 150 cm, Öl auf Leinwand, ©️ Adrian Ghenie
Foto © Infinitart Foundation
Neugeburt im 21. Jahrhundert. Adrian Ghenie malt Egon Schiele
Maria Vittoria Maiello
An einem sonnigen Freitagmorgen öffnet das Wiener Albertina Museum seine Türen für Besucher. Gegen Mittag ist der Ort bereits voller Touristen, die in die oberen Etagen strömen. Viele Werke – es scheinen Hunderte zu sein – wichtiger Namen der Kunstgeschichte wie Chagall, Matisse und Picasso ziehen die Besucher mit Kameras und Smartphones in der Hand an und lassen sie die Säle füllen. Im Erdgeschoss jedoch ist es noch ruhig. Ein Schild sagt: „Adrian Ghenie“. Und dann: „Schattenbilder“. Keine Menschenmenge, keine Kamera-Blitze, nur das leise Klacken von Absätzen. Einige Besucher bewegen sich leise durch den Raum und verweilen vor großen, farbenfrohen Gemälden. Die minimalistische Struktur der Ausstellung betont ihre Lebendigkeit und ruft gleichzeitig „eine klinisch kalte, pathologische Atmosphäre hervor“, wie der Kurator Ciprian Adrian Barsan schreibt.
Sofort befällt mich das Gefühl, dass etwas mit diesen großformatig abgebildeten Körpern nicht stimmt. Sind sie Aliens? Leiden sie an einer physischen oder psychischen Krankheit? Sind die Aktfiguren gezwungen, im Bett zu bleiben, oder liegen sie in ihren Särgen? Sind diese Fliesen die gleichen, die man in einem Badezimmer eines Sanatoriums finden könnte? Und dieser Drehstuhl – ist es der, auf dem man ständig in einem Büro sitzen muss?
Bei genauerer Betrachtung kommt mir der Gedanke, diesen Stil schon einmal gesehen zu haben. In einem Lehrbuch, auf einer Postkarte oder in einem Museum. Dann: schwarz-weiß Fotografien. Beschriftet mit: „Egon Schiele.“ Der Maler ist einer der bedeutendsten Künstler der Wiener Moderne, berühmt für seine Aktporträts und seinen expressionistischen Stil. Nun wird alles klar. Bei den „Schattenbildern“ handelt es sich um verlorene Werke Schieles, die nur durch schattenhafte Fotografien überliefert sind.
Der rumänische Künstler Adrian Ghenie, der heute in Berlin lebt, ist besonders berühmt für seine verschwommenen und versengten großformatigen Bilder, die berüchtigte Figuren des letzten Jahrhunderts darstellen oder die Kunstgeschichte neu interpretieren. Darunter ein „fake Rothko“, ein Selbstporträt als Van Gogh oder dessen Sonnenblumen. Jetzt ist es an der Zeit, Schiele zu ehren, die Zuschauer auf eine Reise durch Zerfall und Neuschöpfung mitzunehmen. Die Neuschöpfung von Schieles Malerei, so scheint es.
Die Titel sind dieselben wie bei Schiele: Auferstehung, Weltwehmut, Kniender männlicher Akt mit erhobenen Händen. „Schiele war natürlich Teil meines geistigen Archivs, nicht hinsichtlich des Stils, sondern hinsichtlich der Haltung. Gemeinsam mit Schiele teile ich das Interesse an der Verformung und Dehnung der menschlichen Form und das spielerische Experimentieren damit“, so Ghenie. Auch Mimik und Körpersprache sind dieselben. Ghenies Gemälde bringen Farbe und eine starke Deformation in Schieles Akte. Die Gesichter sind nicht mehr erkennbar. Und hier sind sie: das Handy, der Laptop, der Rasierer – Werkzeuge unserer Zeit. Der Ausstellungstext betont: „Nicht weil Handys, Tablets, Einwegrasierer, Badezimmerfliesen und Ähnliches seine Bilder bevölkern, ist Ghenie Zeuge unserer Zeit, sondern weil er den Menschen des 21. Jahrhunderts in seiner immer noch gewalttätigen, armen und grausamen Gestalt sieht, als Täter und blutiges Opfer zugleich.“ Das ist sicherlich – und leider – wahr.
Und dennoch: Diese Details aus unserem Alltag fielen mir sofort ins Auge. Und sie brachten mich zum Nachdenken. Sagt der Maler, dass die Menschheit sich durch diese Werkzeuge in Aliens verwandelt? Werden wir zu Monstern, weil wir von ihnen abhängig sind? Es scheint so. Der Ausstellungstext erklärt: „Für Ghenie erweitert sich im 21. Jahrhundert das Labor menschlicher Evolution um Technologie. Diese wird erstmals zum Faktor der Entwicklung und verlagert das darwinsche Prinzip des ‚Survival of the fittest‘ auf anthropogen geschaffene technologische Umweltbedingungen wie die Erweiterung unseres Körpers und unserer Sinne um das Smartphone.“ Auch kleinere Studien zeugen von Ghenies Auseinandersetzung mit den Originalen. Er bringt Schieles Werke durch eine Neuinterpretation in unsere Gegenwart, mit ihrer Umwelt und ihren Werkzeugen. Weder eine Kopie noch eine Aneignung, sondern eine Neugeburt.
Aber wie oft hören wir, dass wir zu abhängig von Handys oder Laptops sind? Was ist mit dem Übel des Selfies und der sozialen Netzwerke? Wie viele Künstler sprechen darüber? Wie oft beklagen wir uns, dass wir in einer dystopischen Gesellschaft leben, die auf Bildschirme starrt und nicht auf die Realität? Ist Technologie der einzige Weg, die Mängel unserer Zeit darzustellen? Auch die Touristen im Obergeschoss haben ein Smartphone, um Fotos der ausgestellten Werke in der Albertina zu machen. Angesichts der Körperdarstellungen in den Bildern und der Aussagen der Kuratoren scheint klar zu sein, dass dieser Zustand der menschlichen Entwicklung schlecht ist. „Sage man nicht, niemand hätte das Unglück kommen sehen.“
Links: Adrian Ghenie, Kniender männlicher Akt mit erhobenen Händen 1, 2024, 210 x 150 cm, Öl auf Leinwand, ©️ Adrian Ghenie. Foto © Infinitart Foundation
Rechts: Adrian Ghenie, Studie nach Die Selbstseher I, 2024, 140 x 120 cm, Kohle auf Papier, ©️ Adrian Ghenie. Foto © Infinitart Foundation