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Der Regelkreis von No. 49

Was haben universelle Übersetzungsmaschinen, KI-generierte Fotos und Kybernetik mit Noise-Performances zu tun? Ein Einblick in die Ausstellung des Künstlers Marcel Ralle alias Dafalgan im Salon Maudite, die unser Autor Muno in München besucht hat. Lesezeit: 5 Minuten

Die Einladung zu Dubtitles erreichte mich per SMS und es dauerte ungefähr einen halben Tag, um zwischen Signal, Whatsapp, Telegram und Threema die SMS-App herauszusuchen, über welche sich sonst nur noch Aldi Talk oder Inkassobüros bei mir melden. Doch diesmal ist es der Maler und Performancekünstler Marcel Ralle, der mich ausnahmsweise nicht über einen Gruppenchat, eine Insta-Story oder eine Rundmail, sondern ganz persönlich zu seiner Einzelausstellung im Salon Maudite einlädt.

In den Räumen des Salon Maudite präsentiert er eine Reihe von Tesafilm-Papier-Collagen, Monotypien auf Bütten, Reisefilmen, verfremdeten Bildmarken – und KI-generierten Motiven auf Fotopapier. Letztere lagen wie Schnappschüsse auf einem Beistelltisch gestapelt und zogen meine Aufmerksamkeit auf sich: Marcel Ralles Arbeiten bewegen sich durch den kybernetischen Regelkreis. In der Wissenschaft versteht man unter diesem Begriff die Steuerung von Maschinen und deren Abbilden von Handlungsweisen lebender Organismen und sozialen Organisationen, weshalb es oft mit der Formel der Kunst des Steuerns beschrieben wird.

Ein großer Traum der Kybernetik bestand in der Idee einer universalen Übersetzungsmaschine für alle Sprachen. Um sich der Verwirklichung jenes Traumes anzunähern, musste man zunächst die Verknüpfung von Dingen mit Wörtern verstehen – wie sie allgemein erkannt werden. Diese philosophische Idee einer universalen Übersetzungsmaschine wurde schließlich technisch umgesetzt. So entstand in den 1950er Jahren ein bis heute grundlegender Gedanke, wonach das Verhältnis von Input und Output zum Zweck jener universalen Übersetzung umgekehrt wird, auch Perzeptron genannt.

Das Modell des Perzeptron wirkt bis in die Gegenwart. So bildet es den Ausgangspunkt der jüngst empor gekommenen Bilder- und Text generierenden Maschinen wie Dall-E und Chat GPT. Hierbei handelt es sich um die elektronische Nachbildung des
Erkennens; angefangen bei der Wahrnehmung durch die Sinneszellen bis zur Repräsentation als neuronale Verknüpfung. Das Perzeptron führt die Herkunft der erkannten Formen im Gedächtnis auf eine Unsumme von ähnlichen Sinneseindrücken zurück. Es entstehen Netzwerke aus Ähnlichkeiten, die sich durch ausgesuchte Schlagwörter (sogenannte Prompts) animieren lassen, neue Bilderwelten und Texte aus zueinander benachbarten Formen zu kombinieren.

Parallel dazu veränderte sich auch im gesellschaftlichen Kontext die einstige Unterscheidung von Input und Output: So nivellierte sich beispielsweise durch Social Media prominent der Unterschied zwischen Autor*in und Rezipient*in. Leser*innen schreiben Bücher. Cineast*innen drehen Filme. Die Umkehrung von Eingabe und Ausgabe, von Erkennen und Erzeugen wurde universal gegangen und mündete in einem Sprechen Aller zu Allen. 

Doch wenn alles mit allem permanent verknüpft wird – oder alle mit allen sprechen – folgt nicht daraus, dass niemand mehr zuhört bzw. nichts mehr mit irgendetwas wirklich verbunden ist?

Hier kommt Marcel Ralles Kunst ins Spiel: Als dieser unter dem Pseudonym Dafalgan seine Show mit einer Noise-Performance eröffnete, vollzog er die radikale Gegenthese zum Perzeptron. Denn Noise stellt als analoge Form der Rauschgewinnung die Gegenthese zur digitalen Mustergewinnung des Perzeptrons dar. Diese Geste erscheint notwendig, um etwas genuin Soziales hervorzuheben, das im Referenzraum des Perzeptrons verloren zu gehen droht. 

Als ich mich also im Salon Maudite dem Fotostapel widme, fühlte ich mich plötzlich seltsam isoliert. Auf den Fotos sehe ich Pferde in brennenden Landschaften, entstellte menschliche Gesichter und Silhouetten auf Brachen und Feldern, monströse Physiognomien, traurige Affenportraits und wie Reihenhaussiedlungen nebeneinander gereihte Lagerbaracken.

Sie wirkten auf mich, gerade wegen der Haptik des Fotopapiers, wie echte Zeugnisse vergangener Ereignisse. Die Motive kamen mir allesamt bekannt vor und ich wusste auch warum. Aus ihnen spricht die Form, doch sie sagt nichts. Die Fotos zeigen bloß die tradierte Figur, die bekannte Komposition. Sie funktionieren als Abjekt von Sehgewohnheiten, sind rein ästhetisch. Dies liegt daran, dass das Perzeptron nicht den individuellen Blick, sondern nur die Wahrnehmung von Typen und Klischees imitiert. Die KI-generierten Fotos gehen gänzlich im kulturellen Gedächtnis auf, das letztlich nichts anderes als ein Verweisungszusammenhang von Zeichen ist, aus welchem sich das Perzeptron speist.

Eigentlich möchte ich mich über diese lernenden Maschinen freuen. Aber ich fühle mich mit den Fotos in der Hand, wie dieser arme Kerl aus dem Pfingstwunderbericht: Da braust der Heilige Geist als universeller Übersetzer in ihn, der auf einmal alle so gut versteht und auch umgekehrt von allen so gut verstanden wird, dass ihm nur diese blöde Frage einfällt: Was will das werden? 

Mehr zum Künstler Marcel Ralle:

www.marcelralle.de

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