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Die analoge Fotografie zeigt Fischfiguren, die von der Decke einer Messehalle hängen.

Erstes Standbein, zweites Standbein, drittes Standbein

Die meisten Künstler*innen können nicht von ihrer Kunst leben. Unsere Autorin Helena Kühnemann hat sich bei Kunstschaffenden umgehört, welche Arbeiten sie verrichten, um ihre künstlerische Arbeit zu finanzieren. Lesedauer: 7 min

„Ich bin traurig und ich habe Angst, weil ich habe kein Geld und weiß nicht, wie ich jemals von meiner Kunst leben soll“, schreibt Olga Hohmann in einem Artikel für das nd. Den meisten Personen, die in meinem Umfeld künstlerisch arbeiten, geht es regelmäßig so. Das Kunststudium weist den konkreten Weg in eine ungewisse Karriere. Ich habe mich gefragt, wie andere Künstler*innen sich das Leben finanzieren und wie sich ihre Jobs zu ihrer Kunst verhalten.
Dafür habe ich mit sieben verschiedenen Künstler*innen aus der Kunstagentur ato und von außerhalb gesprochen: Paula Abalos, Olga Hohmann, Kilian Kretschmer, Luise Marchand, Jonathan McNaughton, Dennis Ulbrich und Nemanja Sarbajic.

Alle diese Künstler*innen sind in unterschiedlichen Stadien ihres Schaffens. Von Absolvent*innen bis zu bereits etablierten Künstler*innen, die sich seit über einer Dekade auf dem Kunstmarkt bewegen. Niemand von ihnen schafft es, ausschließlich vom Verkauf der Arbeiten zu leben. Sich allein durch den Verkauf von Arbeiten zu finanzieren, ist ein schwieriges Unterfangen mit den schwankenden Bedingungen auf dem Kunstmarkt und Arbeiten, die weder marktgängig, noch in einem Medium geschaffen sind, das sich verkaufen lässt. Die Werke von Kilian Kretschmer zum Beispiel „verkaufen sich nicht so einfach, weil sie immateriell sind.“

Die eigene künstlerische Praxis deckt in den wenigsten Fällen die Fixkosten, weswegen gerade in der Kunst viele dazu gezwungen sind, in anderen Arbeitsverhältnissen Geld zu verdienen. Lohnarbeit ist Arbeit, bei der die arbeitende Person nichts so wirklich vom Produkt der Arbeit hat und nur vom Lohn lebt, den sie dafür erhält. Für Luise Marchand liegt der größte Unterschied zwischen Lohnarbeit und künstlerischer Arbeit darin, „dass die Lohnarbeit nach Stunden und Aufwand vergütet wird.“
In der Kunst gibt es unkalkulierbare Einnahmequellen. Finanzierung durch Fördergelder und Residenz-Programme schaffen temporäre Entlohnung für das künstlerische Arbeiten und kommen dem, was man woanders als „Gehalt“ bezeichnen würde, dabei noch am nächsten. Paula Abalos ist es wichtig, herauszustellen, dass es sich dabei allgemein nicht um viel Geld handelt, sondern lediglich „genug, um zu überleben. Und das geht auch nur, wenn man mit wenig auskommt und keine Kinder hat.“ Oft passiert es auch, dass bei geförderten Projekten viele der Beteiligten nicht fair bezahlt werden. Nicht selten sind die Förderbedingungen daran gekoppelt, dass Reise- sowie Materialkosten erstattet werden können, also alles, wofür man quasi eine Quittung hat, während die Eigenleistung, die Löhne und Honorare der Künstler*innen oder der im Kunstfeld arbeitenden Personen übersehen werden.

Die meisten, mit denen ich gesprochen habe, würden sich am liebsten voll und ganz ihrer Kunst widmen. „Ehrlich gesagt kenne ich das Gefühl gar nicht, den Rücken komplett frei zu haben für die freie Arbeit, also für die Arbeit an den Dingen, die mich wirklich umtreiben“, meint Jonathan McNaughton, weil Fragen zur finanziellen Grundsicherung und Existenz permanent über einem schweben. Lohnarbeit muss in manchen Fällen auch einen Beitrag zum Familienleben leisten, wie bei Kilian Kretschmer. „Sie frisst Zeit. Zeit, die ich natürlich gerne für freie Arbeiten hätte, aber ohne meine Jobs könnte ich gar nicht so frei arbeiten, wie ich es möchte.“ Aus meiner Umfrage geht hervor, dass ein Job oft nicht genug ist. Die meisten arbeiten parallel. Die konstante Jobsuche ist bei vielen permanentes Element ihrer künstlerischen Arbeit.

Kommode in einem puristischen Hotel, auf der eine Tischlampe, einige leere Saftflaschen und ein Röhrenfernseher stehen.
Unterbringung in Unterkunft für Arbeiter*innen. Essensmesse Hamburg 2017, © Helena Kühnemann
Roter Teppichboden und eine kitschige alte Gardine
Essensmesse Hamburg 2017, © Helena Kühnemann

Mit zwanzig zog unsere Autorin Helena Kühnemann den Staubsauger „Henry“ auf einer Essensmesse hinter sich her, er schaute sie mit den beiden aufgeklebten Augen traurig an, während die abschätzigen Blicke der Business-Männer auf ihr lagen, die Hosen zu eng im Schritt. Seither sind Arbeitsverhältnisse ein wichtiges Thema ihrer Auseinandersetzung in Kunst und Kultur.

Welche Kompetenzen haben Kunstschaffende auf dem Arbeitsmarkt?

Von der Wellness-Wurst-Verkosterin, der Arbeit am Käsestand, am Fließband im Porschewerk, als Tennislehrer, an der Zirkuskasse, einem 24/7 Fitnessstudio oder der Enthüllung neuer Automodelle auf Messen vor Politiker*innen – die Antworten auf Fragen nach den Joberfahrungen beinhalten neben einem Moment der Skurrilität vor allem Fragen nach der Existenzsicherung. Nebenarbeit ist mitunter so zeitintensiv, dass sie von der künstlerischen Praxis abhält. Luise Marchand hat versucht, das umzudrehen und sich „Jobs gesucht, die entweder inhaltlich oder technisch [ihre] künstlerischen Praktiken unterstützen.“ Viele der Befragten versuchen, dicht am Kunstfeld zu arbeiten. Olga Hohmann kann kaum noch eine Grenze zwischen ihrer eigenen künstlerischen Praxis und kuratorischer, vermittelnder, gastgeberischer und journalistischer Arbeit ziehen. Kilian Kretschmer macht einen klaren Unterschied zwischen dem Job als Art Director und seiner Arbeit als Künstler: „Meine künstlerische Arbeit ist frei und meine Lohnarbeit ist kommerziell.“ Dennis Ulbrich hat „seit dem Studium bis heute immer parallel im sozialen Bereich gearbeitet.“ In der Schulbegleitung, in stationären Einrichtungen oder der Behindertenhilfe. Dieser Bereich beeinflusst seine künstlerische Praxis. „Die Zusammenarbeit mit Menschen in besonderen Lebenslagen [hat] mir immer wieder neue Perspektiven auf das Leben gegeben. Diese führen immer wieder dazu, dass für mich Selbstverständliches und Normales auch ganz anders wahrgenommen werden kann.“

Und sie begannen, künstlerische Arbeiten über Lohnarbeit zu machen

Die Begegnungen, die in Lohnarbeitsverhältnissen gemacht werden, sind für viele der Künstler*innen prägend. Damit beeinflussen sie wiederum die eigene Haltung und ein Stück weit die eigene künstlerische Praxis. Die Erfahrungen werden in künstlerischen Arbeiten umformuliert und reflektiert. Jonathan McNaughton erzählt von seinen Erfahrungen mit Menschen, die in Zeitarbeitsfirmen schlecht bezahlt werden und in permanenter Unsicherheit über den nächsten Job leben. Oder mit Personen, die auf Gewerbeschein arbeiten und scheinbar gut verdienen, aber hinter deren scheinbarer Freiheit auch große Abgaben und Jobunsicherheiten stecken. „Ich hatte bei all diesen Jobs Begegnungen mit Menschen, die hochgradig prekär leben.“ Über den Werkkomplex, der nach der Arbeit in einer Porschefabrik entstanden ist, meint er, es handle sich dabei um den „Versuch einer gewissen Subversion dessen, was einem da widerfährt – also eigentlich so wie ich es immer versuche: einen Umgang mit Erfahrungen, eine Übersetzung für das zu finden, was uns tagtäglich entgegenschlägt.“ Es ist ihm wichtig, sich von dem Gedanken einer Feldstudie als künstlerischer Praxis abzugrenzen. Sprich: Lohnarbeit auszuüben, daraus künstlerische Arbeiten zu machen und damit in einem elitären Blick von oben herab auf Menschen zu schauen, die tagtäglich in den Verhältnissen arbeiten müssen.

Weder Arbeitstourismus noch Feldstudie

Prägende Begegnungen fanden für Luise Marchand bei den Jobs in verschiedenen Kaufhäusern statt. „[Sie] ersetzen fehlende Orte der Begegnung und ich würde sogar sagen, der Fürsorge. Denke, das würden viele Verkäufer und Verkäuferinnen bestätigen. Viele Menschen kommen, um einfach mal zu reden, Aufmerksamkeit zu bekommen oder ihren Emotionen freien Lauf zu lassen.“ Man hat alles mitbekommen, von Wutausbrüchen mit Festnahmen, über Fäkalien in der Umkleide, bis zu Heiratsanträgen. Arbeitsorte werden damit natürlich auch zu Orten, an denen man soziale Phänomene beobachten kann. Luise Marchand hat in ihrer Diplomarbeit ‚Die Zeichen stehen gut’ die Erfahrungen aus der Arbeit im Kaufhaus transformiert. Paula Abalos hat lange Zeit in einem Fitness-Center und Airbnb’s geputzt. In drei ihrer Werkgruppen thematisiert sie die Arbeitsorte und formt sie dabei zu einer Art Atelier. Der Moment der Aneignung von Arbeitsorten wird wie ein kleiner subversiver Akt der Rebellion und eine Form der Selbstermächtigung über die Lohnarbeit. Sie betont, dass sie keine „Arbeitstouristin“ ist, also niemand, die sich Lohnarbeit gezielt sucht, um sie zu dokumentieren. Sie stellt heraus, dass sie alle Jobs aus einer finanziellen Notwendigkeit heraus macht und hofft, dass es keine weiteren Serien zu diesem Thema mehr geben muss. „I hope they will be not be more. I saw them as a form of salvation.“

Paula hat besonders auf Probleme von Kunstschaffenden mit einem nicht-europäischen Pass aufmerksam gemacht. Visa und Aufenthaltserlaubnisse sind häufig an die Erwerbstätigkeit geknüpft, sprich: Man kann nicht ’einfach’ einen Nebenjob annehmen, sondern der Job und Geldverdienst müssen an die künstlerische Praxis gekoppelt sein und sich dementsprechend auch im kreativen Bereich abspielen. Am Ende des Jahres muss der*die Kunstschaffende in einigen Bundesländern nachweisen, dass sie*er genug verdient hat, was den Druck erhöht. Die Aufenthaltsgenehmigungen sind demnach an den Verdienst – und vor allem an die Bezahlung – gekoppelt. 

An dieser Stelle möchte ich mich bei allen Personen bedanken, die sich die Zeit genommen haben, meine Fragen zu beantworten und meine Perspektive zu erweitern. Auch wenn viele der Arbeiten über Lohnarbeit mit einem gewissen Grad an Humor spielen, verstecken sich dahinter große Ängste. Von der Vereinbarkeit zwischen Lohnarbeit und künstlerischer Arbeit, zwischen Kreativität und Existenzsicherung. Das Thema scheint wie ein Damoklesschwert über allen Künstler*innen zu schweben. Dabei werden neue Regeln und Formen gefordert, wie man durch Honorare oder bessere Entlohnungsmöglichkeiten die Arbeit in der Kunst angemessen wertschätzen könnte. Kilian Kretschmer fasst dies gut zusammen: „Sinnkrisen sind da vorprogrammiert, aber meine Jobs helfen mir auch dabei, sie zu überwinden. […] Ich kann einfach sinnlos weiter machen :)“

Links zu den interviewten Künstler*innen:

Jonathan McNaughton

Luise Marchand

Paula Abalos

Olga Hohmann

Kilian Kretschmer

Dennis Ulbrich

Nemanja Sarbajic

Titelbild: Helena Kühnemann