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Die Künstlerin Hannah Cooke steht im Atelier neben einer ihrer Red Flags anlässlich einer Picasso Ausstellung

Picasso is a red flag

Gewalt im Namen der Kunst? Ein Dialog zwischen ato-Künstlerin Hannah Cooke, die fünf feministische Arbeiten und eine Ausstellung mit dem Titel How to Face Picasso entwickelte, und Crisp-Autorin Emma-Lilo Keller. Mit einer Fotostrecke von Sebastian Heck. Lesedauer: 10 min

Pablo Picasso ist vielleicht der bekannteste Künstler der Welt. Er verkörpert die Figur des Genies schlechthin, und wie sich herausstellt, war er ein ziemlich grausamer Mensch. 
Es gäbe so viel zu ihm zu sagen: Picassos Schaffen zeugt von der Romantisierung sexueller Gewalt, von der Reduktion von Künstlerinnen auf die Rolle der Muse, von unserer Gesellschaft, die Genies konstruiert, von Kunst, die auf kultureller Aneignung basiert, von den Boys Clubs, die die europäische Kunstgeschichte bestimmen, von der Straffreiheit, die mächtigen Männern zugestanden wird. 
Die Geschichte Picassos ist die eines Mannes, dem alles erlaubt war, der sein ganzes Leben lang Menschen, die in der heteropatriarchalen Hierarchie unter ihm standen, niedergedrückt und misshandelt hat: Frauen, Mädchen, seine Kinder und Enkel*innen, Homosexuelle und auch Männer, die er als weniger „maskulin“ empfand.

Emma-Lilo Keller: 230 Ausstellungen zu Lebzeiten, 2.300 bedeutende post mortem, und jetzt, zu Picassos 50. Todesjahr, kommen noch sehr, sehr viele auf der ganzen Welt hinzu – was hat dich, Hannah, dazu bewegt, im Kunstmuseum Heidenheim eine weitere Ausstellung zu konzipieren?

Hannah Cooke: In diesem Museum existiert seit langem eine Dauerausstellung mit Werken von Pablo Picasso, darunter auch eine problematische Radierung mit dem äußerst direkten Titel Minotaurus, eine Frau vergewaltigend. Der Museumsleitung war bewusst, vor allem wenn es Führungen mit Schulklassen gab, dass bestimmte Dinge heute anders angesprochen werden müssen als bisher, zumal die Werke dort unkommentiert hängen. So wurde ich damit beauftragt, einen neuen, feministischen Blick auf die Sammlung zu werfen und sie in ein neues Licht zu rücken. Mir wurde dabei freie Hand gelassen.


Emma-Lilo Keller: Wie bist du vorgegangen?

Hannah Cooke: Mein erster Schritt bestand darin, alle Werke von ihm abzuhängen, um zu schauen, wie sich die Räume anfühlen. Er nimmt seit Jahrzehnten so viel Raum ein und sitzt auf einem unantastbaren, heiligen Podest. An diesem wollte ich rütteln. Letztlich fanden alle Bilder, die zuvor sieben Räume füllten, auf einer einzigen Wand ihren Platz, dicht gehängt, von der Decke bis zum Boden. Ich finde, dass Picasso ruhig einmal ein bisschen Platz machen darf.

Emma-Lilo Keller: Weil du vorhin das Werk Minotaurus, eine Frau vergewaltigend, das sich in der Sammlung befindet, erwähnt hast: 1926 buchte Picasso, damals 45-jährig, die Schülerin Marie-Thérèse Walter in das Ferienlager in dem Ort, in dem er, seine Frau und sein Sohn Urlaub machten, ein, um sie nachts im Kinderzeltlager zu besuchen. Von da an begann er, Marie-Thérèse Dutzende und Aberdutzende Male zu malen – nackt, schlafend, unter seiner Macht. Es war auch der gleiche Zeitpunkt, an dem er begann, sich als Minotaurus darzustellen: Eine mythologische Figur, halb Mensch, halb Stier, die die Brutalität des Menschen symbolisiert, der seine Triebe nicht beherrschen kann, die sich in einem Labyrinth versteckt und vom Fleisch der Kinder, die ihm als Opfer gebracht werden, ernährt. Es ist also nicht unbedeutend, dass Picasso den Minotaurus als sein Alter Ego wählt, als Marie-Thérèse Walter in sein Leben tritt. Er wird zum Symbol seiner sexuellen Macht, und daraus machte Picasso keinerlei Geheimnis: Es entstand eine ganze Reihe von Zeichnungen und Radierungen, in denen er den Minotaurus bei Vergewaltigungen malt, wobei in einigen Marie-Thérèse Walter, die später Suizid begang, als Opfer dargestellt ist.
Ebenjenen Minotaurus greifst du im übertragenen Sinne in deinen neuen Arbeiten auf, die du zusätzlich zur Umstrukturierung der Ausstellung angefertigt hast.

Hannah Cooke: Genau. Die abgehängten Wände der anderen Räume ließ ich kahl und die Nägel und Schilder der zuvor dort hängenden Werke blieben so bestehen. Inmitten dessen platzierte ich dort fünf eigene Werke: Drei textile Arbeiten, die ich Red Flags nenne, die den Stier in drei antiken Mythologien aufgreifen und neu interpretieren. Die erste, Den Stier bei den Hörnern packen bezieht sich auf Herakles, der den kretischen Stier besiegt. Die zweite, Schultern, ist eine Anspielung auf Atlas, der ein Himmelgewölbe auf dem Rücken trägt, das hier jedoch durch den Stier ersetzt ist. Die dritte Fahne, Wir müssen uns Sisyphos als eine glückliche Frau vorstellen, greift die Sage von Sisyphos auf, der für immer dazu verdammt ist, einen schweren Stein einen Berg hochzurollen. Dieser wurde auch hier durch einen Stier ersetzt. Alle drei Flaggen zeigen mich oder auch eine Frau, die sich an ihm abarbeitet.
Allerdings wollte ich diese Arbeiten nicht ausschließlich auf Picasso beziehen, sondern die Metaphern allgemeingültig halten, um das übergeordnete Problem bei der Wurzel zu packen, von der Picasso ein Auswuchs ist: Die weiße, patriarchale Machtstruktur, in der wir leben. 
Dass ich mit dem Textilen bewusst ein weiblich konnotiertes Medium gewählt habe, das Picasso vermutlich aus diesem Grund als keine ernstzunehmende künstlerische Disziplin betrachtete, ist kein Zufall.
Der Titel Red Flags bezieht sich dabei zum einen auf die Tradition des Stierkampfes, in welcher die Matadores mit einem roten Tuch die Tiere zum Angriff reizen, und dessen Brutalität, aber auch auf einen Begriff, der mittlerweile oft beim Dating aufkommt: Wenn es bei einem möglichen Partner Hinweise auf ein rassistisches, frauenfeindliches oder sonstiges aggressives Verhalten gibt, bezeichnet man jene als Red Flags. Diese werden unter Frauen weitergegeben, um sich gegenseitig zu warnen.
Zu den drei roten Flaggen kamen noch zwei pinke hinzu, die wiederum direkte Verweise auf Anekdoten aus Picassos Leben sind. Den kleinen Finger reichen zeigt Dora Maars Handschuhe, eine Frau, deren mutiges, selbstzerstörerisches Auftreten Picasso (zunächst) unheimlich beeindruckte. Auf Mein Täubchen sind Taubenfüße dargestellt, denn Picasso sollte als Kind oft abgehackte Taubenfüße naturalistisch abzeichnen, was ich für ein sehr starkes Bild hielt.

Emma-Lilo Keller: „Um eine Taube zu malen, muss man ihr erst den Hals umdrehen“, ein berühmtes Zitat von Pablo Picasso. Zerstörung war ein zentrales Thema in seiner Arbeit. Jedes Mal, wenn er eine Frau verließ, verfiel er in eine kubistische Periode, um sie auf der Leinwand zu demolieren. Die Anzahl der Frauen, die auf seinen Leinwänden vollständig zerstückelt oder verstümmelt sind, ist beeindruckend!
Auch „Die Natur existiert, damit wir sie vergewaltigen können“, ist ein berühmtes Zitat von Picasso, das oft beschönigt wird. Das beweist, wie oft in der europäischen Kunst Vergewaltigung nicht nur banalisiert, sondern auch romantisiert wird. Immerhin ist es ein allgegenwärtiges Thema in der griechisch-römischen Mythologie, das über Jahrhunderte hinweg einen immensen Teil des künstlerischen Schaffens in Europa genährt hat. Welchen Umgang würdest du dir von Museen und Institutionen mit jenen Kunstwerken, deren Werke jedoch für viele bedeutend sind, wünschen?

Hannah Cooke: Die patriarchalen Bilder und Muster verschwinden ja nicht, nur weil man sie abhängt. Wichtig finde ich, dass man dem eine Gegenperspektive, wie ich sie beispielsweise mit den Red Flags erzielen wollte, entgegensetzt. Wenn Leute darüber entsetzt sind, dass man Künstler in Frage stellt und dabei der Vorwurf aufkommt, man wolle den Künstler „canceln“, möchte ich sie fragen: Wisst ihr eigentlich, wie viele Frauen Picasso Zeit seines Lebens gecancelt hat? Wie vielen seiner Partnerinnen er die Grundlagen ihrer Kunst wegnahm und aktiv Karrieren verhinderte? Mir geht es dabei nicht um Auge um Auge, Zahn um Zahn. Wir müssen schlauer, besser sein und nicht die gleichen Methoden wiederholen. Was ich damit sagen will, ist, dass man mit Picasso nicht zimperlich umgehen muss.

Emma-Lilo Keller: Eine der zerstörten Karrieren war die der Fotografin Dora Maar, deren Handschuhe du auf der Flagge Den kleinen Finger reichen aufgreifst. Picasso lernte sie mit 55 Jahren kennen, als sie mit 29 ihr eigenes Fotostudio leitete, mit Man Ray zusammenarbeitete, künstlerisch erfolgreich und finanziell unabhängig war. (Sie war es, die Picasso dazu überredete, sein berühmtestes Bild Guernica zu malen, was sie auch fotografisch dokumentierte.) Man könnte meinen, dass er ihren Erfolg und Intelligenz, wie in so vielen seiner Beziehungen, als Herausforderung sah, sie als Künstlerin zu brechen: Nachdem er sie überredet hatte, seine offizielle Fotografin zu werden, drängte er sie dazu, ihren Beruf aufzugeben. Sie verlor sowohl ihre Haupteinnahmequelle als auch ihre Anerkennung als Fotografin. Picasso erniedrigte Maar nicht nur täglich, sondern schlug sie auch regelmäßig, manchmal so heftig, dass sie das Bewusstsein verlor. Auch dies war keine Privatangelegenheit, nein, die Gewalt, die er ausübte, schien wie immer seine Kunst zu beflügeln: 1937 schuf er dreiundfünfzig Werke mit dem Titel Die weinende Frau. Alle Porträts zeigen eine verzweifelte Frau mit schmerzverzerrtem Gesicht, jedes Mal ist das Modell Dora Maar.
Angesichts der Misshandlungen erlitt die Fotografin einen Nervenzusammenbruch, woraufhin Picasso, der aus ihr keine Inspiration mehr schöpfen konnte, sie zu dem berühmten Psychoanalytiker Lacan schickte. Dieser wies sie in eine Anstalt ein und verpasste ihr drei Wochen lang ohne Anästhesie Elektroschocks. Von da an war sie völlig isoliert, wurde sehr religiös und nahm nie wieder eine Kamera in die Hand – eine weitere talentierte Künstlerin, die nicht nur in den Schatten eines Mannes gestellt, sondern ausgelöscht wurde.

Hannah Cooke: Die allererste Ausstellung, bei der ich das Gefühl hatte, dass ich einen Katalog kaufen muss, war eine Ausstellung in 2001 im Haus der Kunst zu Dora Maar. Ihre großartigen Werke haben mich wirklich gepackt. Da war ich 15 Jahre alt. Leider war sie zu dem Zeitpunkt der Ausstellung in München bereits verstorben.
Die anderen Frauen, die mit Picasso in einer Beziehung waren, werden bis heute auf die Rolle der Muse degradiert, wie zum Beispiel die Künstlerin Françoise Gilot. Die im Übrigen, obwohl Picasso nach ihrer Trennung dafür sorgte, dass niemand aus der europäischen Kunstwelt mehr mit ihr zusammenarbeiten wollte und sie in die USA auswandern musste, durchaus gestärkt und selbstbewusst daraus hervorgetreten war und sich ein neues (künstlerisches) Leben aufgebaut hatte. Doch spätestens bei ihrem diesjährigen Tod holte der Sexismus unserer Gesellschaft die Künstlerin wieder ein: Fast alle Titel der Nachrufe bezeichneten sie lediglich als “Frau” bzw. “Muse von Picasso” – außer der großartige Artikel von Katy Hessel im Guardian.


Emma-Lilo Keller:
Werden Gräueltaten, die ein Künstler begeht oder begangen hat, aufgedeckt, gilt oft die größte Sorge der Öffentlichkeit nicht dem Schutz der Opfer, sondern dem Rénommé des Künstlers. Stattdessen loben wir Künstler trotz (oder vielleicht gerade deshalb?) all dem, was wir über sie wissen, in den Himmel, verleihen ihnen Preise, geben ihnen eine Bühne – was verrät dies über unser Kunstverständnis? 

Hannah Cooke: Es zeigt, dass man im Namen der Kunst alles darf – als Mann.
Ich war kürzlich in Wien in einer Ausstellung, in der unter anderem eine Arbeit von Otto Muehl ausgestellt wurde, ein Künstler, der nicht nur Sektenführer war, sondern auch nachweislich Kinder missbrauchte und dafür verurteilt wurde. Dort wurde eine Videoarbeit von ihm gezeigt, in der ein etwa zehnjähriger, verzweifelter Junge auf einer Bühne gezwungen wurde, verschiedene Dinge zu tun. Mir ging es danach tagelang sehr schlecht, und ich habe dem Museum eine Email geschrieben, auch wenn keine Reaktion kam. Zwar waren die Kurator*innen durchaus mit der Absicht herangegangen, die Arbeit neu zu kontextualisieren, und tatsächlich war hinter der Arbeit eine kleine Plakette, die über den Missbrauch und die Sekte des Künstlers aufklären sollte, angebracht. Abgesehen davon, dass ich den kleinen Begleittext erst danach entdeckte – andersrum hätte ich mir die Arbeit erst gar nicht angesehen –, war jedoch offensichtlich, dass trotz der Bemühungen des Museums immer noch diese schlimmen Szenen gezeigt werden, dass der Missbrauch immer wieder auf das Neue wiederholt wird. Hier stößt die Kunstfreiheit an eine Grenze, finde ich.
Wie lässt sich Täterkunst zeigen, die Gewalt erzählt, ohne dass man jene Gewalt wiederholt?

Emma-Lilo Keller: Oft wird das unkritische Ausstellen im Namen des großen, scheinbar universellen Prinzips getan, das besagt, dass man den Menschen vom Künstler trennen sollte.

Hannah Cooke: Aber das tut der Künstler doch nicht mal selbst! Eine verzweifelte Dora Maar, eine schlafende Marie-Thérèse Walter, die missbraucht wird – was der Künstler darstellt, ist untrennbar sein Leben, seine Gedankenwelt. Wenn man das Werk von dem Autor trennt, ist es doch nur noch eine leere, inhaltslose Geschichte.

Emma-Lilo Keller: Spätestens aus der Perspektive des Kunstmarkts geht die angebliche Trennung des Künstlers vom Werk nicht auf: Entfernt man die Signatur unter dem Bild, ist es in der Regel nichts mehr wert. Das Interesse der Käufer*innen besteht schließlich gerade darin, einen Picasso zu besitzen.

Hannah Cooke: Deshalb tragen Museen eine Verantwortung, wenn sie eine Auswahl treffen und etwas ausstellen. Und auch wir als Betrachter*innen müssen uns fragen, ob wir mit den gezeigten Inhalten einverstanden sind. Dabei darf man nicht vergessen, dass die großen, staatlichen Institutionen, die wir oft für unantastbar halten, mit Steuergeldern finanziert werden. 

Emma-Lilo Keller: Vielen Dank, Hannah, für deine schönen Worte. 

Nach unserem Gespräch schwirrte eine Frage in meinem Kopf herum: Werden Pablo Picassos Werke, die im Kunstmuseum Heidenheim im Zuge von How to Face Picasso neu arrangiert wurden, nach dem Ende der Ausstellung am 15. Oktober wieder an ihren ursprünglichen Platz gehängt? 
Die Frage habe ich abschließend dem Leiter des Kunstmuseums Heidenheim gestellt. Klar sei, so Marco Hompes, dass Picassos Werke nach der Ausstellung nicht wieder so hängen können, wie zuvor. Es müsse Raum für Dialogwerke aus der Gegenwart geschaffen werden, weshalb eine der Arbeiten von Hannah Cooke hängen bleiben und die Inhalte der Ausstellung auch zukünftig vermitteln wird, wenn auch in kleinerem Umfang. Es solle in Zukunft ein größerer Anteil an weiblichen Positionen Picasso gegenüberstehen, so der Leiter des Kunstmuseums.

Cookes Werk fordert den Minotaurus nicht nur heraus, sondern nimmt ihm Raum – im wahrsten Sinne des Wortes. Vielleicht gibt es doch Hoffnung auf einen Ausweg aus dem Labyrinth unserer patriarchalen Kunstwelt?

Ausstellungsansichten von How to Face Picasso mit Cookes Werken im Kunstmuseum Heidenheim
Fotos: Hannah Cooke

Ein Text mit Unterstützung von Marie Griesheimer und mit einer Fotostrecke von Sebastian Heck.

Mehr zum Thema:

How to Face Picasso von Hannah Cooke im Kunstmuseum Heidenheim

Video-Interview mit Francoise Gilot in 1998

Auf Französisch: Picasso, le Minotaure, Buch von Sophie Chauveau, Folio, 2020

Auf Französisch: Picasso, séparer l’homme de l’artiste, Podcast von Julie Beauzac, 2021

Nanette, Show von Hannah Gadsby auf Netflix, 2018

Und trotzdem eine Picasso, Buch von Marina Picasso, List Verlag, 2001

Leben mit Picasso, Buch von Francoise Gilot und Carlton Lake, Diogenes, 2021

Mehr zur Künstlerin Hannah Cooke auf der Kunstplatform ato